Was ist das „kolonialisierte Gehirn“?

Psychische Erkrankungen werden als Rückschritt gesehen. Psychiater Andreas Heinz über die Auswirkung des „kolonialisierten Gehirns“ in der Psychiatrie.

Die Illustration zeigt den Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Campus Charité Mitte in Berlin
Prof. Dr. med. Dr. phil. Andreas Heinz ist Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Campus Charité Mitte in Berlin. © Jan Rieckhoff für Psychologie Heute

Herr Heinz, in Ihrem Buchtitel sprechen Sie vom „kolonialisierten Gehirn“. Was genau meinen Sie damit?

Als unsere psychiatrischen Krankheitsbilder um 1900 artikuliert wurden, wurden koloniale Hierarchien auf das Gehirn und seine Funktionen projiziert. Erkrankungen wurden als Umkehrung der Evolution verstanden. Dabei sollen immer zuerst die evolutionär jüngsten und am komplexesten entwickelten Hirnzentren und deren Funktion geschädigt sein, allen voran der frontale Kortex.

Das ist aber nachweislich falsch: Alle möglichen Hirnregionen können bei Erkrankungen zuerst betroffen sein, beim Parkinsonsyndrom zum Beispiel Nervenzellen im Mittelhirn. Vieles wusste man aber um 1900 noch nicht und es wurde dogmatisch behauptet, dass der krankheitsbedingte Abbau immer mit den „höchsten“ Hirnfunktionen beginne und auf ein individuell wie stammesgeschichtlich „primitives Niveau“ zurückführe. Erwachsene Menschen mit psychischen Erkrankungen würden sich deshalb wie „primitive Menschen“ oder wie Kinder benehmen.

Und da die eigene Stammesgeschichte – also wie Menschen etwa in der Steinzeit gelebt haben – schwer zu erfassen ist, hat man sich kurzerhand mit den Bewohnerinnen und Bewohnern der damaligen Kolonien beholfen, da sie angeblich auch „primitiv“ seien. Und so hat man etwa Menschen in Afrika mit Personen gleichgesetzt, die schizophrene Psychosen erleben.

Heutzutage geht man in der Psychiatrie davon aus, dass psychische Erkrankungen dann entstehen, wenn höhere Hirnzentren die Kontrolle über vermeintlich niedrigere Hirnzentren verlieren. Was ist an diesem Top-down-Modell aus Ihrer Sicht denn falsch?

Das Gehirn ist ein wunderbar komplexes, interaktiv schwingendes Organ, seine Funktionen sind in Netzwerken und Regelkreisen organisiert. Evolutionär ältere Hirnzentren wie die Basalganglien tragen nicht nur zur Bewegung, sondern auch zu intelligenten Entscheidungen bei.

Und psychische Erkrankungen sind keine „Primitivierung“: Um etwa einen Wahn zu bilden, müssen Sie sehr viel nachdenken und konstruieren, da sind Hirnzentren wie der frontale Kortex beteiligt, die wir als höchst komplex verstehen. Und natürlich waren die Bewohnerinnen und Bewohner der ehemaligen Kolonien nicht „primitiv“ oder fantasierten „unlogisch“ wie im Traum: Das waren Abwertungen, die der Rechtfertigung der jahrhundertelangen transatlantischen Sklaverei und des Kolonialismus dienten und die bis heute alle widerlegt wurden.

Welche Folgen hat dieses durch koloniales Hierarchiedenken geprägte Verständnis von psychischen Erkrankungen für die Betroffenen?

Historisch wurden in der Zeit des Nationalsozialismus sowohl die schwarzen Deutschen im Rheinland als auch Personen mit einer Vielzahl von psychischen Erkrankungen zwangssterilisiert, Letztere auch ermordet. Bis heute werden Menschen mit psychischen Erkrankungen stigmatisiert, ausgegrenzt und diskriminiert.

Was muss sich ändern, damit sich die Situation verbessert?

Unsere Krankheitstheorien stehen auf dem Prüfstand, und das ist gut so. Es gibt dimensionale Ansätze, die die gleitenden Übergänge zu Erkrankungen besser erfassen als starre Kategorien. Und wir verstehen, wie viele Erkrankungen als Ergebnisse von Lernmechanismen entstehen, also gerade auch aus Erfahrungen wie beispielsweise Traumatisierung oder sozialer Ausgrenzung. Expertinnen aus Erfahrung, also Betroffene und Angehörige müssen auf allen Entscheidungsebenen beteiligt sein. Das ist etwa im neuen Deutschen Zentrum für Psychische Gesundheit umgesetzt, aber längst noch nicht überall die Regel. Und: Unsere Teams müssen noch diverser werden, um den Menschen mit ihren unterschiedlichsten Lebenserfahrungen gerecht zu werden.

Andreas Heinz ist seit 2002 Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Campus Charité Mitte in Berlin.

Andreas Heinz’ Buch Das kolonialisierte Gehirn und die Wege der Revolte ist bei Suhrkamp erschienen (324 S., € 24,–)

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