Offensichtlich verbringen nicht wenige Menschen zu viel Zeit mit Bildschirmen. Gérald Bronner, Professor an der Université Paris Cité, liefert nun messerscharfe Begriffe, um den neuen Alltag zu sezieren. Der Soziologe untermauert seine „Pathologie der digitalen Gesellschaft“, auf Französisch im Jahr 2021 erschienen, mit Erkenntnissen aus der Psychologie, der Hirnforschung und der Geschichtswissenschaft. So entsteht ein Rahmen, der viele verwirrende Facetten der Digitalisierung ordnet.
Bronners Schlüsselbegriff ist die „Gehirnzeit“, die frei bleibt für geistige Tätigkeit nach Erwerbsarbeit, Körperhygiene oder Haushalt. Davon haben die Menschen in Frankreich durchschnittlich fünf Stunden am Tag, das Achtfache des Jahres 1800. Für Erfindungen und neues Denken hatte damals kaum jemand Zeit, aber schon die wenigen Privilegierten brachten Europa weit voran in der Kunst, Wissenschaft und Technologie.
Jetzt könnte es dank der millionenfachen Extrakapazität von Gehirnen noch größere Erträge für die Menschheit geben. Zwar sind einige davon unbestreitbar; der große Sprung aber bleibt aus. Also stellt der Autor die Frage seines Buches: „Was werden wir mit der freigesetzten Gehirnzeit anfangen?“ Für ihn steht damit „der kostbarste Schatz aller uns bekannten Welt“ auf dem Spiel.
Gérald Bronner sieht nicht nur in den Techkonzernen mit ihren Social-Media-Plattformen Zeiträuber. Es seien auch all die anderen Angebote, die uns an Bildschirme fesseln. Die wenigsten bildeten sich damit, schon gar nicht, um die Menschheit zu bereichern. Meist schlagen wir neu gewonnene Gehirnzeit gleich wieder tot: am liebsten mit Reizen, die unmittelbares Interesse wecken und Bedürfnisse befriedigen. Deshalb, so Bronner, macht Pornografie einen großen Teil der Internetnutzung aus.
Kreativität kommt zu kurz
Menschen fanden stets Freude auch an bloßer Unterhaltung. Die Digitalisierung aber bringt eine neue Qualität hervor. Diese packt Bronner mit einem weiteren Schlüsselbegriff, dem „kognitiven Markt“: Jede und jeder kann selbst Inhalte beitragen; auf dem deregulierten Markt der Gedanken aber verbreiteten sich falsche Ideen etwa sechsmal schneller als richtige.
Die digitalen Medien erleichterten den Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage auf dem kognitiven Markt. „Die Fähigkeit, einen Teil unserer verfügbaren Gehirnzeit für sich zu gewinnen, lässt sich leicht zu Geld machen.“ Oder zu Macht, denn nicht nur Digitalkonzerne wissen im Netz Aufmerksamkeit abzugreifen, sondern auch Verschwörungstheoretikerinnen und politische Extremisten.
Neben Sex binden vor allem Angst und Konflikt die Aufmerksamkeit. Das Anstandsgefühl schwindet, es kommt zu kollektiven Empörungen, die enorme Auswirkungen auf das politische System haben. Populisten erstarken, die Demokratie gerät in die Defensive.
Weil das Smartphone stets zur Hand sei, fehle trotz der vielen neuen Freiräume oft „die Zeit des Wartens, der Langeweile und der Träumereien – und damit ein Teil unserer Kreativität“.
Die Enthüllungung der Gehirnzeit
Die Bildschirme seien allerdings lediglich Mittler zwischen dem hypermodernen Charakter des kognitiven Marktes und sehr alten Hirnstrukturen. Der prähistorische Mensch erscheine somit wieder, nun auf der digitalen öffentlichen Bühne. Seine Aufmerksamkeit richte sich nicht nur auf schnelle Belohnungen, sondern um des Überlebens willen auf alles, was bedrohlich erscheint. Das wüssten die Diebe der Gehirnzeit nur zu gut zu nutzen.
Bronner wendet selbst einen Aufmerksamkeitstrick an, wenn er in seinem Buchtitel die „kognitive Apokalypse“ heraufbeschwört. Das macht Angst, wirkt bedrohlich. Erst nach fast 140 Seiten erklärt er schelmenhaft, er meine gar nicht die geläufige Wortbedeutung des angekündigten Weltuntergangs aus dem Johannesevangelium, sondern die ursprüngliche: „Enthüllung“, „Entschleierung“ und „Offenbarung“. Das sei dem Autor verziehen. Zeigt er doch nicht nur Probleme auf, sondern bietet auch Lösungen an.
Menschen könnten von der Gehirnzeit vernünftigen Gebrauch machen „und den Aufmerksamkeitsdiebstahl als politischen Tatbestand werten“. Kinder sollten mehr als bisher außer Lesen, Schreiben und Rechnen „auch lernen, selbst zu denken“. Vom richtigen Gebrauch des kostbarsten aller Schätze hänge nicht weniger ab als „die Zukunft aller Zivilisationen“.
Gérald Bronner: Kognitive Apokalypse. Eine Pathologie der digitalen Gesellschaft. Aus dem Französischen von Michael Bischoff. C.H. Beck, München 2022, 304 S., € 24,–