Professor Stambolis, Sie haben viel zu so genannten Kriegskindern geforscht, das sind Menschen, die zwischen 1930 und 1945 geboren wurden und von denen viele ihre Heimat nach dem Zweiten Weltkrieg verlassen mussten. Was beschreiben die Kriegskinder, wenn sie von den Orten ihrer Kindheit erzählen?
Die Männer und Frauen haben oft beschrieben, dass sich das Kind, das sie einmal waren und für das lange Zeit kaum Platz in ihrem Leben war, wieder zu Wort meldet. Und dass sie mit diesem Kind nochmal auf eine Reise gehen, auf eine innere und auf eine tatsächliche.
Viele haben die Orte aufgesucht, in denen sie mit ihren Familien in den ersten Jahren gelebt haben. Sie erzählen, dass das, was sie suchten, zunächst einmal vage war – sie haben etwas gesucht, was sie verloren hatten. Es geht also um eine grundlegende Verlusterfahrung.
Oft berichten sie von einem Ort, in der sie von Familienmitgliedern und weiteren Verwandten umgeben waren, häufig spielen Großeltern eine Rolle. Sie erzählen auch von landschaftlichen Besonderheiten, von freundlichen Sommertagen. Aber das entscheidende sind die Personen. Hinter der Sehnsucht nach dem Ort steht immer die Sehnsucht nach Geborgenheit und zugewandten Menschen.
Verstärkt sich die Sehnsucht nach Heimat im Alter?
Ja. Ich denke, das hat damit zu tun, dass wir im Alter Bilanz ziehen, was manche Menschen bewusster, andere weniger bewusst tun. Dazu zählt die Frage: Wohin gehöre ich eigentlich, wo sind meine Wurzeln? Manche fragen sich auch ganz konkret: Wo möchte ich beerdigt werden? Einige berichten, dass sie eine Handvoll Erde ihrer Geburtsheimat bei sich tragen oder jemandem übergeben haben – das hätte etwas Tröstliches für sie.
Eine weitere Frage, die ältere Menschen sich häufiger stellen, ist: Was möchte ich von mir erzählen, was soll von mir übrigbleiben? Manche wollen auch den Enkelinnen und Enkeln die Orte zeigen, die sie als ihre frühe Heimat betrachten, einigen fällt es leichter, gegenüber ihren Enkeln ihre Gefühle zu zeigen. Die Geburtsheimat liegt eben eng bei dem, was wir als Gefühlsheimat betrachten – und da landen wir wieder bei der Sehnsucht nach Geborgenheit.
Manche wollen schließlich auch nochmal an einen früheren Ort reisen, um das Leben rund zu machen. Eine Erzählung herzustellen, mit sich in Einklang zu kommen – und irgendwie auch Abschied zu nehmen.
Sie sagen, dass die Sehnsucht nach Heimat bei den Kriegskindern auch mit Scham besetzt war. Warum?
Zum einen hat es seit den 1960er Jahren heftige Kritik gegeben an Heimattümelei und Brauchtumspflege. Das ist wahrscheinlich eine Reaktion auf eine Zeit, in der vieles, was im „Dritten Reich“ passiert war, zugedeckt wurde – dieses Verdecken kann man auch am Erfolg der Heimatfilme in den 1950ern sehen. Die Kritik an dieser Art der Heimattümelei fiel mit dem Sprechen über die deutschen Gräueltaten zusammen. Damals ist es sicherlich peinlich gewesen, von Heimatsehnsucht zu sprechen.
Das zweite, was eine Rolle spielt: Man hat die Integration der Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg in der Meistererzählung der Bundesrepublik über viele Jahrzehnte, bis in die 1980er Jahre hinein, als Erfolgsgeschichte beschrieben. Man hatte es geschafft: Die Flüchtlinge waren nicht in Lagern untergebracht, es ging bergauf, die Wirtschaft florierte, man hatte die Schäden des Krieges scheinbar beseitigt. Und in dieser Zeit, in der nun so allgemein akzeptiert war, dass alles gelungen war, haben die ehemaligen Flüchtlingskinder nicht gewagt, davon zu sprechen, wie sie sich nach dem Krieg gefühlt haben, dass sie sich unglaublich geschämt haben, Geflüchtete zu sein.
Viele der Kriegskinder schämten sich auch als Erwachsene noch dafür. Und diese Scham hatte ja auch reale Ursachen: In Klassenbüchern wurde lange noch eingetragen, wer ein Flüchtlingskind war, in Studien wurde behauptet, dass Flüchtlingskinder minderbegabt seien, von den Einheimischen wurden sie oft beschimpft. Daher hat sich bei vielen von ihnen das Credo ,bloß nicht auffallen‘ festgesetzt – und nicht zu erkennen geben, dass man ein Flüchtling war.
Ja, auch der Schriftsteller Peter Härtling, selbst ein Flüchtlingskind, hat offen davon erzählt, wie er in dem schwäbischen Ort Nürtingen, in den er mit seiner Mutter nach dem Krieg geflohen war, beschimpft wurde. Die Bewohnerinnen und Bewohner haben ihn nicht freundlich aufgenommen.
Das gilt für viele Regionen. Überall, wo Flüchtlinge kamen, haben die diese Erfahrungen gemacht. Sie waren einfach nicht willkommen. Aus verschiedenen Gründen: Weil sie anders gesprochen haben, weil sei einer anderen Konfession angehörten und ähnliches.
Glauben Sie, die Sehnsucht nach Heimat wäre kleiner gewesen, wenn das Willkommen größer gewesen wäre?
Ich glaube, dass das Willkommen damals nicht größer hat sein können. Die Probleme waren einfach unglaublich groß. Das ist ein Vorwurf, den man aus späterer Sicht an diese Zeit richtet: Warum ist man den Gefühlen der Kinder nicht gerechter geworden, warum hat sie keiner in den Arm genommen und getröstet? Vermutlich weil die Menschen derartig mit dem Überleben beschäftigt waren, dass dafür die Kraft nicht gereicht hat. Auch bei den Müttern nicht, mit denen die Kinder auf der Flucht waren.
Ich habe an einem Projekt gearbeitet, das für mich eine ganz besondere Bedeutung hat, zum Thema „Töchter ohne Väter“. Diese Frauen haben über ihre Flucht berichtet, darüber, dass sie oft jahrelang unterwegs waren, in Lagern untergebracht wurden – und dass sie einfach funktionieren mussten, weil es ihre einzige Überlebenschance war.
Ich glaube, die Frage, ob das Willkommen hätte größer, der Umgang mit den Bedürfnissen der Geflüchteten ein anderer hätte sein müssen, die hat sich damals so nicht gestellt. Dass wir sie heute stellen, ist wichtig, weil wir etwas lernen können darüber, was Kinder, Jugendliche, Familien mit Kriegs- und Gewalterfahrung brauchen. Wir können ihnen auch begegnen, wenn wir ihre Sprache nicht verstehen, weil es ganz emotionale Grundbedürfnisse sind, die sie haben.
Aus Ihrer Erfahrung heraus mit den Kriegskindern: Würden Sie sagen, es gibt so etwas wie eine „gesunde“ Form von Heimatsehnsucht, die einen dazu führt, am Ende auszuheilen? Und eine Form von Sehnsucht, die eher schadet, weil sie verhindert, dass man bei sich selbst ankommt?
„Gesund“ haben Sie ja in Anführungszeichen gesetzt und das ist auch genau richtig. Denn zu den Grunderfahrungen dieser Generation gehört, dass heile Welten nicht wirklich existieren, dass sie sehr brüchig sind. Ich glaube, dass dieses Wissen eine Stärke sein kann. Es hilft, zwischen Wichtigem und Unwichtigem im Leben zu unterscheiden und zu spüren, worauf es ankommt. Und dann den Blick zum Beispiel auf stabile und verlässliche Bindungen zu richten.
Was den Menschen schaden könnte? Zu hadern, statt den Mut aufzubringen, das Erlebte – vielleicht auch mit professioneller Hilfe –, zu integrieren. Auch eine Verklärung der Heimatsehnsucht kann abträglich sein.
Eine besondere Problematik entsteht, wenn alte Menschen, die solche Verlusterfahrungen haben, dement werden und sich vielleicht in Welten bewegen, in denen Angehörige und Pflegekräfte weniger Zugang zu ihnen haben. Wenn diese alten Menschen dann sagen: „Ich will heim“, dann wissen manche Angehörigen nicht, was das bedeutet. Dieses Angstbesetzte, was mit dem Heimatverlust zusammenhängt, ausgedrückt in dem Satz „Ich will heim“. Dem auch niemand gerecht werden kann, weil die Menschen womöglich nie darüber gesprochen haben.
Psychologinnen und Psychologen sagen, dass in der Sehnsucht eine Kraft zum Wandel steckt. Hat die Heimatsehnsucht diese Kraft auch?
Ja, ich glaube, dass es zu Beginn sicherlich ein Wagnis ist und Mut erfordert, sich auf die Heimatsehnsucht einzulassen, weil es eben auch bedeutet, sich mit Melancholie, Schmerz und Trauer auseinanderzusetzen. Die Kraft zum Wandel steckt darin, dass man die Geburtsheimat auch relativieren und sich fragen kann: Wo ist die Heimat? Bei Menschen, in einer Gemeinschaft, bei einer Aufgabe? Und sich losmacht von diesem ortsverbundenen Heimatgefühl.
Menschen, die mehrmals Orte gewechselt oder langjährige Migrationserfahrung haben, beschreiben das häufig als Stärke: Ich brauche keinen konkreten Ort, sondern das, wo ich beheimatet bin, das trage ich in mir und das nehme ich mit.
Eine Interviewpartnerin hat mir zum Beispiel gesagt, dass für sie Heimatsehnsucht die Sehnsucht danach war, den Ort aufzusuchen, an dem ihr Vater im Krieg wahrscheinlich umgekommen ist. Sie hat sein Grab gesucht und auch einen Ort gefunden. Da konnte sie trauern, konnte loslassen und wusste jetzt, wo sein Grab ungefähr ist. Sie hat gesagt, dass sie damit ein Stück Heimat gefunden hätte. Das ist eine vage Annäherung an das, was diese grundlegende Verlusterfahrung bedeutet. Ich glaube, dass jeder einen individuellen Weg finden kann.
Sie schreiben in einem Aufsatz über Heimatsehnsucht, dass sie im Alter begleitet wird von Hoffnung und Furcht. Worauf richtet sich die Hoffnung, wovor fürchten sich die Menschen?
Die Hoffnung besteht wohl darin, dass sich die inneren Bilder einer heilen Welt bestätigen und nochmal lebendig werden, wenn man diese Orte der Kindheit besucht. Es ist vielleicht weniger die Reise zu dem konkreten Ort, der sich seit der Kindheit ja auch verändert hat. Als vielmehr, dass ein Raum entsteht für die Trauer um das Kind, dem Geborgenheit gefehlt hat, das funktionieren und still sein musste und nie zimperlich sein durfte. Diesem Kind nochmal zu begegnen, kann heilsam sein.
Eine Furcht ist, dass an dem Ort eigentlich gar nichts mehr daran erinnert, was man wiederzufinden gehofft hatte. Und dass alles ganz anders ist und vielleicht ein Gefühl von Fremdheit genau da entsteht, wo die Heimatsehnsucht eigentlich einen Resonanzboden finden sollte. Das griechische Wort „Nostalgie“ setzt sich ja zusammen aus „nostos“ – nach Hause zurückkehren – und „algos“, Schmerz. Es zeigt, dass nach Hause zurückzukehren immer diese zwei Seiten hat: Es bedeutet eben auch schmerzliche Erfahrungen.
Worauf sollte man bei einer solchen Reise in die Heimat achten?
Bei denjenigen, für die das gut gelaufen ist und die gerne darüber berichten und die auch andere dazu ermutigen, solch eine Reise zu machen, spielte eine Rolle, dass sie nicht alleine unterwegs waren. Dass sie sich vorher mit anderen verständigt hatten über ihre Reisepläne.
Und dass sie sich gefragt haben: Was suche ich eigentlich, wovor habe ich Angst, was könnte mir gar nicht guttun? Bei manchen Frauen, die ohne Vater aufgewachsen sind, überlagert sich die Suche nach der Geburtsheimat mit der Suche nach dem Vater, der eigentlich immer gefehlt hat und der immer idealisiert war und dem sie hoffen, nochmal zu begegnen.
In dem Projekt „Töchter ohne Väter“ schilderten mir mehrere Frauen, dass sie sich auf der Schulter des Vaters sitzen sehen, „er hält mich in seinen Armen und hat mir die Sterne gezeigt“. Diese Sehnsucht mit der Rückkehr an einen Ort zu verbinden ist schwierig.
Daher ist es gut, vorher darüber zu sprechen. Und vielleicht auch hinterher einen Gesprächskreis zu haben, in dem Menschen feststellen, dass sie nicht alleine sind mit ihren Erfahrungen. Die Generation der Kriegskinder – von denen ja inzwischen nur noch sehr wenige leben – konnte sehr lange nicht über ihre Gefühle reden, auch weil sie in ihrer Erziehung keine Rolle spielten.
Mit Enkeln kann das offenbar besser klappen, weil Enkel manchmal einfach empathisch sind und sagen: „Jetzt nehme ich den Großvater mal in den Arm, weil er das als Kind ja nicht gehabt hat.“ So eine Reisebegleitung zu haben ist natürlich eine gute Sache.
Vererbt sich die Sehnsucht nach der Heimat an die nächste Generation?
Mein Eindruck zur transgenerationalen Weitergabe ist, dass sich zwar Spuren belastender Kindheitserfahrungen von einer Generation in die nächste und auch noch in die dritte Generation nachweisen lassen. Dass das aber auch dann der Fall ist, wenn in Familien nicht gesprochen wird. Wenn also etwas unausgesprochen bleibt, wie eine dunkle Wolke über der nächsten Generation schwebt, die mit Vermutungen belastet ist.
Aber dass einige „Kriegsenkel“ – einige verwenden ja dieses Wort für sich selbst – sagen, sie würden quasi ihr Leben lang auf gepackten Koffern sitzen, weil ihre Großeltern im Zweiten Weltkrieg auf der Flucht gewesen waren, das halte ich für problematisch. Ich glaube, dass das oft sehr schwer nachweisbar und zu pauschal ist. Und dass dieses Gefühl von Wurzellosigkeit und auf Koffern zu sitzen auch damit zu tun hat, dass sich gesellschaftliche Lebensweisen grundsätzlich verändert haben, es also viel mehr nomadische Lebensformen im Zuge der Globalisierung gibt.
Und weil ich Zeithistorikerin bin, führe ich noch ein weiteres Argument an: Die Kinder des Zweiten Weltkrieges waren ja schon Enkel oder Kinder des Ersten Weltkriegs. Und wenn wir das fortsetzen: Das 20. Jahrhundert war ein Jahrhundert der Kriege und überall waren Menschen auf der Flucht. Dann können wir doch nicht sagen, dass es eine Endlosspirale der transgenerationalen Weitergabe gibt. Da möchte ich einfach nochmal zur Vorsicht und Differenziertheit aufrufen.
Die Kriegskindergeneration ist inzwischen sehr alt oder bereits verstorben. Welche ihrer Erfahrungen können uns heute im Umgang mit Geflüchteten helfen?
Das erste ist: Menschen brauchen einen sicheren Ort, an dem sie zur Ruhe kommen, sich erholen können. Und dann vielleicht ganz vorsichtig erste Perspektiven entwickeln können. Ganz entscheidend sind Bindungen an einzelne Menschen oder an Gruppen, auch Gleichaltrige können bei Kindern eine wichtige Rolle mitspielen, weil das Selbstwertempfinden all derjenigen, die so entwurzelt sind, dauerhaft geschädigt ist. Das haben mir die Kriegskinder von einst häufig erzählt.
Eine Befragte hat einmal zu mir gesagt: „Wer war ich denn? Wir haben in einer Baracke gewohnt, wir haben nichts besessen, ich hatte keinen Vater und ich fand auch, dass ich nicht gut aussah. Wie konnte ich da jemand sein?“ Die Sehnsucht nach der Heimat hängt auch mit diesem Mangel an Selbstwert zusammen.
Peter Härtling hat 2018 ein Kinder- und Jugendbuch geschrieben mit dem Titel „Djadi, Flüchtlingsjunge“. Das Buch haben sie mit einem Satz von ihm beworben, der mir sehr in Erinnerung geblieben ist: „Aus geteilter Angst entsteht Nähe.“ Das finde ich einen ganz starken Satz, an dem man sich orientieren kann: Menschen zuhören, ihre Erfahrungen begreifen und von seinen eigenen Ängsten erzählen.
Professor Dr. Barbara Stambolis ist Historikerin und Hochschullehrerin. Ihr Buch Töchter ohne Väter. Frauen der Kriegsgeneration und ihre lebenslange Sehnsucht ist bei Klett-Cotta erschienen