Die Ausbildung zur Erzieherin habe ich mit 30 Jahren begonnen. Ich war zu dem Zeitpunkt alleinerziehend und eigentlich Verkäuferin. Aber immer, wenn ich mich auf eine Stelle als Verkäuferin beworben habe, hieß es: „Sie würden super in unser Team passen. Aber Sie wissen: Sie müssen bis 20, manchmal bis 22 Uhr arbeiten.“ Das wäre mit den Kita-Öffnungszeiten meines Sohnes nicht vereinbar gewesen.
Also habe ich mich zu einer Ausbildung als Erzieherin entschlossen. Es ist ein sicherer Beruf, ich muss meinen Sohn und mich ja ernähren. Und ich bringe Empathie und Kreativität mit und habe ein gutes Gefühl für Kinder. Während der drei Jahre der Ausbildung und den Praktika, die dazugehören, habe ich wirklich viele gute Erfahrungen gesammelt und der Beruf hat mir Spaß gemacht.
Seit zwei Jahren arbeite ich in einer städtischen Kita mit 120 Kindern – davor war ich in einer kleineren Einrichtung. Die Kinder sind zwischen ein und sechs Jahre alt und in fünf Gruppen untergebracht.
Die Woche in der Kita ist sehr durchstrukturiert: Dienstag und Donnerstag sind zum Beispiel die Tage, an denen wir im ganzen Haus verschiedene Aktivitäten für die Kinder anbieten, für die sie sich im Morgenkreis entscheiden sollen. Dann gibt es einen Gruppentag, an dem jede Gruppe individuell etwas unternehmen kann. Und montags und freitags können die Kinder sich komplett frei durch das Gebäude bewegen und zwischen den Gruppen wechseln – man nennt das ein teiloffenes Konzept.
Wie läuft ein Vormittag ab? Es beginnt mit dem Morgenkreis. Montags bin ich für die Vorschulkinder zuständig und muss in zwei Durchgängen insgesamt 25 Vorschulkinder anleiten und Angebote planen. Das geht über in die Mittagessenszeit, anschließend gibt es Schlaf- und Wachgruppen. Während andere Kolleginnen und Kollegen sich zurückziehen, habe ich die Wachgruppe und mache den Kindern in dieser Zeit natürlich auch ein Angebot. In der Mittagszeit bin ich oft mit bis zu 16 Kindern alleine, weil die Kolleginnen und Kollegen Pause machen und wir uns gegenseitig abwechseln.
Alles läuft nebenbei
Dienstags können die Kinder sich im Morgenkreis für ein Angebot aus dem Haus entscheiden. Das hört sich toll an, aber aufgrund von Personalmangel haben wir keine Zeit, uns abzusprechen, Abläufe zu planen oder den Kollegen zu erklären: Was plane ich überhaupt für eine Aktivität?
Damit die Kinder sich morgens für ein Projekt entscheiden können, müsste man es ihnen ja beschreiben können. Ich arbeite seit Monaten ohne Vorbereitungszeit, obwohl mir theoretisch jede Woche zwei Stunden innerhalb meiner Arbeitszeit zustehen. Die Vorbereitung mache ich in meiner Freizeit – oder eben nebenbei.
Dadurch kann ich aber nicht voll konzentriert bei den Kindern sein und bin abgelenkt. Und ständig kommen weitere Dinge von links und rechts: Momentan erhalten wir häufig neue mehrseitige Belehrungszettel zum Beispiel zum Thema Infektionsschutz von unserem Arbeitgeber, die wir innerhalb einer bestimmten Frist lesen sollen. Meine halbe Stunde Mittagspause reicht dazu nicht aus – ich muss in der Zeit ja auch etwas essen.
Die Konsequenz ist: Ich lese es zwischen den Kindern, bei einem Lautstärkepegel von 80 bis 100 Dezibel. Oder ich aktualisiere Karteikarten, in denen Informationen zu den Eltern, den Kindern, den Impfungen und so weiter stehen. Oder ich bereite Elterngespräche vor, die für die Eltern und uns ja sehr wichtig sind und für die wir ja auch Beobachtungen und Notizen sammeln.
Wie sich ein kleines Wesen entwickelt
Die eigentliche Arbeit ist ja bei den Kindern – und die bleibt durch die ganzen Umstände liegen. Ich fühle mich in dieser Einrichtung nur als Aufseherin und nicht als Pädagogin. Wobei ich ja weiß, dass ich viel mehr könnte. Und es ist so viel schöner, mit den Kindern auf dem Boden zu sitzen und sich Bilder anzuschauen und darüber zu philosophieren, wie die Prinzessin sich wohl gerade fühlt. Aber das funktioniert nicht. Weil man erstens nicht die Zeit hat bei der Masse der Kinder und zweitens die Lautstärke zu hoch ist, um überhaupt ein Buch vorzulesen.
Es gibt die sensiblen Kinder in der Gruppe, es gibt die auffälligen, die lauten, es gibt diejenigen, die nur mitlaufen, oder die, die gar nichts mitbekommen, weil sie von der Sprache her noch nicht so weit sind. Den ganzen Kindern gerecht zu werden erfordert einfach, dass man mehr Menschen hat, die für diese Kinder da sind, ihr Wesen sehen, ihre Bedürftigkeit: Was braucht dieses einzelne Kind? An Ideen mangelt es mir nicht, ich habe hunderttausend Ideen im Kopf. Und da ich kreativ bin, setze ich das super gerne um. Es ist einfach wunderschön zu sehen, wie sich so ein kleines Wesen dann entwickelt.
Zum Beispiel hatte ich in meiner alten Einrichtung ein Mädchen, das keine Freunde hatte und immer für sich war. Ich habe dann mal genauer geschaut, womit sie sich beschäftigt und habe gesehen, dass sie ganz toll malt. Sie hat mir erzählt, dass sie das, was sie gemalt hat – einen Raum mit Lampe, Stuhl und Fenster –, gerne in echt hätte. Ich habe ihr angeboten, dass wir das einfach nachbauen – und das haben wir dann gemacht, mit den Materialen, die wir da hatten, nach ihrer Skizze, mit kleinen Schuhkartons, Möbeln aus Spanholz.
Wir haben sogar tapeziert und einen kleinen Teppich reingelegt. Sie hat das total aufgesaugt und war wie ausgewechselt. Über diese Arbeit hat sie dann auch die Anerkennung der anderen Kinder bekommen, die sind neugierig auf sie zugekommen und daraus haben sich wiederum Freundschaften entwickelt. So etwas kann man erreichen, wenn man Personal und Zeit hat.
Zu wenig Zeit, zu wenig Räume
Es gibt außerdem immer mehr Kinder mit Förderbedarf. Dafür müssen wir Fallgespräche mit den Kolleginnen und der Leitung führen, verschiedene Termine mit den Eltern vereinbaren, Anträge stellen. Ein Beispiel: Ein Junge im Vorschulalter hat etwas Traumatisches erlebt und muss noch Windeln tragen. Er zeigt außerdem kognitive Auffälligkeiten, er kann sich schlecht konzentrieren und hört im Morgenkreis nicht zu, so dass ihm wichtige Sachen entgehen. Und er greift andere Kinder körperlich an.
Das sind Dinge, die man über einen längeren Zeitraum beobachtet, dann gibt es ein Gespräch mit den Eltern und dann ist es eine lange Prozedur, bis der Junge einen Status als Integrationskind bekommt. Das bedeutet, dass er Anspruch hat auf besondere Förderung.
Aber diese Förderung ist dann in der Realität kaum umsetzbar. Die Erzieherin, die die Qualifikation für die Förderkinder hat, ist für eine andere Gruppe zuständig und erlebt den Jungen im Alltag nicht. Das heißt, dass ich ihn beobachte und ihr diese Eindrücke schriftlich zukommen lasse. Sie muss das Ganze dann lesen und sich überlegen, welches Förderziel bis wann realisiert werden könnte.
Dafür müsste sie sich einzeln mit ihm beschäftigen, aber das ist teilweise gar nicht möglich, denn in ihrer Gruppe sind ebenfalls vier Kinder, die Förderbedarf haben, und noch eines, das eine Eins-zu-eins-Betreuung benötigt.
Was dem Ganzen noch eins draufsetzt ist, dass wir eine Riesenzahl an Kindern haben, aber nicht die räumlichen Gegebenheiten, um uns richtig zu bewegen. Zum Beispiel muss jetzt eine Gruppe im Sportraum schlafen, wodurch der Sportraum nicht mehr genutzt werden kann, um Kinder, die in einer Wartesituation sind, nochmal zu einem Spiel anzuleiten.
Und der Kreativraum wird zum Essenszimmer. Im Essensraum auf unserer Etage gibt es wiederum nicht genügend Stühle. Wir organisieren also irgendwoher noch Stühle und quetschen die Kinder mit an diesen Tisch, weil es nicht anders geht. Wenn wir mal ein Beratungsgespräch haben, suchen wir im ganzen Haus: In welchem Raum kann das überhaupt stattfinden?
Erschöpft
Man gibt alles. Und am Ende des Tages hat man den Eindruck, dass man nichts geschafft hat. Auf dem Heimweg fühle ich mich, wie wenn man mir meine ganze Energie komplett rausgesaugt hat. Es ist nur ein Existieren für die Arbeit, man selbst geht komplett unter. Ich bin nicht mehr imstande, in meinem Privatleben die Dinge umzusetzen, die ich nur für mich machen möchte. Oder für meinen Sohn.
Frühmorgens habe ich zum Beispiel einen richtigen Energieschub. Wenn ich zur Arbeit gehe, denke ich: Das steht an und das mache ich heute Abend – ich mache Sport. Oder male. Oder lese ein Buch. Und dann ist es soweit und ich gehe von der Arbeit raus und mir dröhnen die Ohren und ich möchte keine sozialen Kontakte mehr, kein Telefonat mit Freunden, nichts, einfach nur noch meine Ruhe. Und so geht das Tag für Tag.
Momentan bin ich krankgeschrieben. Ich habe Panikattacken entwickelt, weil ich dem ganzen Stress nicht mehr gewachsen bin. Das hat sich im vergangenen Jahr angekündigt: Auf dem Weg zur Arbeit habe ich immer mehr Herzrasen bekommen und auf der Arbeit hatte ich einen Puls von 160. Dann habe ich mich erstmal in einen Nebenraum gesetzt, bevor ich überhaupt in die Gruppe gehen konnte, habe versucht, meine Gedanken zu ordnen und Atemübungen zu machen. Aber irgendwann ging das einfach so schief, dass meine Ärztin mich für einen Monat krankgeschrieben hat.
In diesen vier Wochen habe ich mich super erholt und habe gedacht: Jetzt hast du wieder Kraft geschöpft, es ist alles wieder gut, du kannst nach vorne schauen. Ich bin wieder zur Arbeit gegangen, und der erste Tag hat mich gleich wieder umgehauen – mein direkter Gruppenkollege hatte sich auch krankgemeldet, eine Kollegin kam auf mich zu und sagte: Du musst die Kinder erstmal wieder in die Spur bringen, die kennen überhaupt keine Routine mehr und alles ist nur noch am Toben.
Irgendwie wurde dann alles auf mich abgewälzt und es gab wieder ganz viel nebenbei zu erledigen, dazu die vielen Weihnachtsvorbereitungen. Es hat nicht lange gedauert und ich wurde wieder krankgeschrieben.
Ich habe mir jetzt psychologische Hilfe geholt, um herauszufinden, wie es für mich weitergeht. Ich würde gerne in dem Beruf bleiben, weil es mir Spaß macht, weil es so eine schöne Aufgabe ist. Aber nicht unter den Umständen, wie sie jetzt sind. Es ist traurig, dass so wenig Geld in die Arbeit mit Kindern gesteckt wird – und ich meine jetzt nicht mein Gehalt, das finde ich völlig in Ordnung. Sondern in mehr Erzieherinnen und Erzieher, in Menschen, die viele Sprachen sprechen, in kleinere Gruppen, in mehr Räume, in mehr Material.
Wie viel Geld braucht man, um später Menschen wieder in die Gesellschaft einzugliedern, wenn sie vor Unglück krank werden, wenn sie gewalttätig sind, suizidgefährdet, lernbehindert, die deutsche Sprache nicht sprechen? Und wie viel könnte man am Anfang bei den Kleinsten erreichen, damit sie ein heiles Leben vor sich haben? Wenn nicht aus Nächstenliebe, dann aus gesellschaftlichem Eigennutz. Wenn man ganz unten anfängt, dann baut sich alles darauf auf.
Aber es wird an allem gespart. Das macht mich so unzufrieden. Ich habe in den sechs Jahren als Erzieherin so viel Frust erlebt, dass ich mich ärgere, diese Ausbildung gemacht zu haben.