Ab Ende der fünfziger Jahre wurden acht bis zwölf Millionen westdeutsche Kinder in mehrwöchige Kuren geschickt. In der Überzeugung, das Richtige zu tun, nahmen Eltern das verlockende Ferienangebot an und gaben ihre Kinder in die Obhut von Betreuerinnen und Betreuern.
Anders gesagt: Sobald der Zug den Bahnhof verlassen hatte, waren Kinder im Alter zwischen zwei Jahren und dem Beginn der Pubertät der Willkür fremder Erwachsener schutzlos ausgeliefert. Und tatsächlich gerieten sehr viele in ein hermetisches System ohne Kontaktmöglichkeiten nach außen: Elternbesuche und Telefongespräche waren verboten, die Post wurde kontrolliert und zensiert. Viele wurden über Wochen gedemütigt, gequält, missachtet, bekamen Hungerrationen, um abzunehmen, oder wurden zum Essen gezwungen, um zuzunehmen.
In Erinnerungen wird immer wieder erwähnt, dass Kinder das eigene Erbrochene essen mussten. Obwohl Toilettenbesuche nur zu bestimmten Zeiten erlaubt waren, galt Einnässen ebenso wie Weinen und lautes Reden als „Ungehorsam“ und wurde durch Schläge, Wegsperren, Einschüchterung oder die Bloßstellung vor allen Kindern bestraft.
Das Buch als Ausgangspunkt
2004 schrieb die Sonderpädagogin Anja Röhl einen Artikel über ihre Heimerfahrungen – als Sechsjähriger wurde ihr beispielsweise wegen „Schwätzens“ der Mund mit Leukoplast zugeklebt. Sie bekam 250 Briefe von Verschickungskindern, wie sie genannt wurden, was zur Gründung der Website verschickungsheime.de führte, auf der Betroffene von ihren Erlebnissen berichten. Ein eingestellter Fragebogen wurde tausendfach ausgefüllt. Anja Röhls nun erschienenes Buch Das Elend der Verschickungskinder enthält eine große Zahl Erlebnisberichte im Wortlaut und dokumentiert die Geschichte von Kurorten, Heimen und beteiligten Ärztinnen und Ärzten sowie die weltanschaulichen Hintergründe des Heimpersonals. Das Buch versteht sich als Ausgangspunkt eines umfassenden Forschungsprojektes, das die Familienministerinnen und -minister aller Bundesländer bereits befürwortet haben. Anja Röhls Buch ist das Ergebnis einer jahrelangen Zusammenarbeit mit mehreren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Durch die forschungsorientierten Kooperationen verfügt die Autorin über eine ungeheuer facettenreiche Sachkenntnis.
Doch die Aufklärung gestaltet sich mühsam: Viele der ehemals über eintausend Verschickungsheime existieren nicht mehr, die Aufbewahrungsfrist der Akten ist abgelaufen, Träger mauern. Doch schon jetzt ist bekannt, dass Kinder in einigen westdeutschen Heimen ohne Wissen der Eltern durch Medikamente sediert wurden, eine Heilstätte führte illegale Versuchsreihen mit Contergan durch. Es gab sexuelle Übergriffe, 1968/69 versuchte ein Heim, den Tod von drei Kindern zu vertuschen.
Häufig wurde versucht, Personalmangel und hohen Kostendruck durch totale Überwachung und Kontrolle zu kompensieren, vom Essen bis zur Hygiene wurde an allem gespart. Röhl nennt es ein „Milliardengeschäft, bei dem sich unter anderem freie Träger auf Kosten der Krankenkassen bereichern konnten. Heimangebote machten Städte und Landkreise, die Arbeiterwohlfahrt, das Deutsche Rote Kreuz, der Verband privater Kinderheime, katholische und evangelische Wohlfahrtseinrichtungen wie die Caritas oder die Innere Mission.“ In der Führungsebene aller dieser Organisationen will über Jahrzehnte niemand etwas von den gravierenden Missständen bemerkt haben – die so offenkundig waren, dass Einheimische auf Borkum ein Heim „Kinderknast“ nannten.
Für ein breites Publikum
Auch Die Akte Verschickungskinder der Historikerin und Journalistin Hilke Lorenz, die sich seit langem mit Kinderschicksalen in der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit beschäftigt, belegt das Spektrum der Misshandlungen und Übergriffe mit Archivrecherchen. In ausführlichen Porträts schildern Betroffene die „Kuren“, die dort erlebten Ohnmachtssituationen und welche gravierenden Folgen diese Wochen auf ihr weiteres Leben hatten: 60 Prozent der ehemaligen Verschickungskinder, die sich dazu geäußert haben, sagen, dass sie bis heute negative Folgen spüren.
Lorenz führt gründlich in das Thema ein, sie schreibt für ein breiteres Publikum. Ihre Porträts sind ergreifend, die Recherchen und Hintergrundinformationen fachlich solide.
Beide – Anja Röhl wie Hilke Lorenz – sehen die „schwarze Pädagogik“ und personelle Kontinuitäten aus der NS-Zeit als Ursache des Verhaltens und der Strafen von Ärzten und „Tanten“. Röhl betont, die Vorkommnisse zwischen Nordseeinseln und Alpenvorland glichen sich darum so verblüffend, weil die Leiterinnen und die Betreuer der Heime, je nach Alter, das „Dritte Reich“ entweder aktiv mitgestaltet hatten oder im Nationalsozialismus erzogen worden waren; einige NS-Ärzte waren nach dem Krieg in Kurbädern quasi in Deckung gegangen.
In neun sehr erhellenden „Ursachensträngen“ analysiert Anja Röhl mögliche Gründe für die erwähnten Ähnlichkeiten, wozu neben dem erwähnten NS-Erbe auch die Bäderheilkunde und Sadismus gehören. Jeder ihrer Ursachenstränge ist ein kompakter Schnellkurs, der über das enge Feld „Verschickungskinder“ hinausgeht und durchaus als Einführung zu einem Universitätsseminar zum jeweiligen Thema taugt. Die Kombination dieser Stränge kann vermutlich auch Fachleuten Neues bieten.
Der Grundgedanke der Kuren war, Kinder aus benachteiligten Familien an schöne Orte zu schicken, wo sie liebevoll betreut und aufgepäppelt werden würden. Tatsächlich erlebten viele großartige Wochen. Der unerhörte und noch lange nicht aufgearbeitete Skandal besteht darin, dass dies nicht die Regel war. Sie hatten einfach nur Glück.
Hilke Lorenz: Die Akte Verschickungskinder. Wie Kurheime für Generationen zum Albtraum wurden. Beltz, Weinheim 2021, 304 S., € 22,–
Anja Röhl: Das Elend der Verschickungskinder. Kindererholungsheime als Orte der Gewalt. Psychosozial, Gießen 2021, 305 S., € 29,90