Demokratie ist mehr als eine bestimmte Staatsform. Sie ist zunächst ein Ideal, in dem sich hohe moralische Prinzipien wie Freiheit, Gerechtigkeit, Kooperation und Wahrheit bündeln. Diese Ideale werden von vielen Menschen geteilt – doch oft besteht eine Kluft zwischen unseren Idealen und Wünschen und unserem wirklichen Verhalten.
Es ist schwer genug, das Regelwerk beispielsweise unserer repräsentativen Demokratie zu verstehen. Doch noch viel schwerer ist es, wahre Demokratie zu leben. Politikunterricht und Demokratieprogramme der Bundesregierung mühen sich redlich, den nachwachsenden Generationen zu zeigen, wie die parlamentarische Demokratie als Herrschaftsform aufgebaut ist, wie Wahlen durchgeführt werden oder welche Programme die verschiedenen Parteien haben. Aber sie helfen ihnen nicht, die wichtigste Fähigkeit zu entwickeln, die wir in der Demokratie brauchen, um die Dilemmas zu lösen, die unvermeidlich entstehen, wenn wir versuchen, die moralischen Prinzipien der Demokratie anzuwenden.
Solche Hilfe hätten wir alle bitter nötig – Elternhaus, Schule und Beruf bieten uns zu wenige und oft gar keine Gelegenheiten zu lernen, mit Dilemmas umzugehen. Das zeigt ein in der Forschung häufig verwendetes psychologisches Experiment: Darin werden Teilnehmerinnen und Teilnehmer gebeten, Argumente für und gegen eine schwierige Entscheidung zu bewerten, die eine fiktive Person getroffen hat. Jedes Argument repräsentiert eine von sechs verschiedenen moralischen Orientierungen.
Konflikte werden durch Gewalt gelöst
Die Mehrheit der Versuchspersonen verhält sich in dem Experiment so, wie wir es aus dem Alltag kennen: Sie lehnen die Argumente, die ihrer Meinung widersprechen, unterschiedslos ab und akzeptieren alle Argumente, die mit ihrer Meinung übereinstimmen – egal wie gut oder schlecht sie jeweils sein mögen. Nach über 40 Jahren Einsatz in vielen Forschungsprojekten weltweit können wir sagen: Dieses einfache Experiment macht den Kern der Demokratiefähigkeit sichtbar, nämlich die Fähigkeit, Probleme und Konflikte durch Denken und Diskussion zu lösen statt durch Gewalt, Betrug oder blinde Unterwerfung unter Autoritäten. Das Experiment bestätigt: Bei den meisten Bürgerinnen und Bürgern ist diese Fähigkeit gering ausgebildet.
Dass wir zu wenig tun, um diese Fähigkeit zu fördern, zeigt sich in dem enormen Aufwand, den wir betreiben müssen, um die Folgen dieser Unterlassung zu beheben. Da wir nicht in der Lage sind, allen wenigstens ein Minimum von Lerngelegenheiten für moralisch-demokratische Kompetenz bereitzustellen, sind riesige Gesetzesberge, ein ebenso riesiger Polizei- und Justizapparat, sehr teure Gefängnisse und teure Wiedergutmachung für Opfer aller Art notwendig. Die Förderung der moralisch-demokratischen Kompetenz aller Menschen wäre ungleich billiger und würde den finanziellen Aufwand und die Leidensfolgen drastisch verringern, die durch ihren Mangel verursacht werden.
Georg Lind ist Moralpsychologe und Lehrerfortbilder. Bis zu seinem Ruhestand war er außerplanmäßiger Professor an der Universität Konstanz. Er entwickelte Methoden zur Sichtbarmachung von Moral- und Demokratiekompetenz