Frau Lahti, der finnische Begriff Sisu ist kaum übersetzbar. Fällt Ihnen eine Alltagssituation ein, die illustriert, was damit gemeint ist?
Ein Amerikaner hat einmal über Sisu geschrieben, nachdem er Finnland besucht hatte. Er und sein finnischer Gastgeber bestellten sich im tiefen Winter ein Taxi. Doch das Taxi brachte sie versehentlich nicht an das eigentliche Ziel. Es stellte sich heraus, dass sie noch relativ weit marschieren würden. Der Amerikaner regte sich innerlich auf. Aber er beobachtete, dass sein Gastgeber weder aufgebracht noch unzufrieden war. Er entschuldigte sich auch nicht bei seinem amerikanischen Gast.
Der Finne schlug dem Amerikaner keine Alternativen vor, dachte vielleicht nicht einmal an sie. Stattdessen biss er die Zähne zusammen und marschierte durch den Schnee. Das wäre ein alltägliches Beispiel für Sisu. Aber Sisu ist nicht alltäglich. Dieser Meinung sind die meisten Finnen. Sie beziehen Sisu nicht auf kleine Unannehmlichkeiten – sondern auf Notlagen, Probleme und große Herausforderungen. All das, was uns den Boden unter den Füßen zu entziehen droht.
Was genau ist also Sisu?
Sisu beschreibt das unerwartete Durchhaltevermögen während einer Krise oder einer schwierigen Situation. Es ist jene Situation, in der wir glauben, wir seien am Ende – aber wir stellen fest: Wir haben mehr Kraft als gedacht und es geht vorwärts. Sisu ist vergleichbar mit dem, was William James, der Vater der Psychologie, als second wind – zweite Luft – beschrieben hat: dieser Extraschub an Kraft und Energie. Extremsportler kennen den körperlichen Extraschub Energie. Aber Sisu bezieht sich nicht nur auf physische, sondern auch psychische Stärke. Dagegen ist Sisu nicht als kognitive Fähigkeit zu begreifen, sondern als ein unerwartetes Arsenal an Kraft im Angesicht von Widrigkeiten.
Erlaubt uns diese Extrakraft, langfristige Ziele zu erreichen?
Bei Sisu geht es weniger um Langzeitziele. Sisu meint nicht das Durchhaltevermögen, das wir beispielsweise brauchen, um im Beruf vorwärtszukommen. Vielmehr bezieht es sich auf eine temporäre Herausforderung: die Notlage oder das Problem jetzt und hier.
Mit Ihrer Forschung haben Sie Sisu außerhalb Finnlands bekannter gemacht. Wie sind Sie dazu gekommen, Sisu zu untersuchen?
Ich habe mich Sisu zunächst aus privatem Grund zugewandt – nach einer Beziehung, in der ich häusliche Gewalt erfahren habe. Damals wollte ich mehr über Sisu wissen, um für mich selbst Kraft zu schöpfen. So habe ich festgestellt, wie wenig bislang darüber geschrieben worden war. Da war das Buch eines finnischen Politikers aus den 1950ern. Und es gab Zeitungsartikel, hauptsächlich außerhalb von Finnland verfasst. Die renommierte New York Times schrieb beispielsweise während des Zweiten Weltkrieges, Sisu sei das zentrale kulturelle Konzept, dank dessen Finnen die kriegerischen Auseinandersetzungen überstünden. Aber wissenschaftliche Studien zu Sisu habe ich bei meiner Recherche nicht finden können. Also habe ich mich kurzerhand entschlossen, die Forschungslücke zu schließen.
Wie untersucht man etwas so Komplexes und Abstraktes wie Sisu?
Ich arbeite unter anderem mit Fragebögen. Ich habe meine Forschung damals begonnen, indem ich meinen finnischen Landsleuten elementare Fragen gestellt habe. Dazu gehörten beispielsweise: Gibt es Sisu überhaupt? Was genau bedeutet es? Ich hatte Glück: Sehr schnell kamen über tausend Antworten zusammen, die ich unter anderem anhand semantischer Analysen interpretierte. Einige Antworten überraschten mich. Denn manche Teilnehmer beschrieben Sisu als etwas Übermenschliches, gar Magisches.
Ist Sisu tatsächlich etwas, das nur ganz wenigen privilegierten Menschen innewohnt?
Ich bin der festen Überzeugung, dass das nicht so ist. Sisu ist auch nicht allein etwas typisch Finnisches, sondern etwas typisch Menschliches. Wenn es darauf ankommt, hat jeder Einzelne von uns ein Reservoir an Energie und Kraft. Sisu ist verblüffend, sicherlich, aber weder übermenschlich noch magisch. Ich selbst habe Sisu auch an mir beobachtet: Ich bin mehrere Ultramarathons in Neuseeland gelaufen. Dabei hatte ich immer wieder Momente, in denen ich dachte: Das war es jetzt, ich kann keinen weiteren Schritt mehr setzen. Und dann kam er doch – der nächste Schritt. Und noch einer. Und noch einer. Und es ging immer weiter.
Sisu ist in Finnland allerdings nicht nur mit positiven Assoziationen besetzt. Wann wird es zu einem problematischen Phänomen?
Sisu ist im Grunde Extraenergie. Und Extraenergie ist an sich weder gut noch schlecht. Entscheidend ist, wie wir diese Energie nutzen. In welche Richtung steuern wir sie? Manche Finnen der älteren Generation verlassen sich häufig auf Sisu, weil sie glauben, dass es beschämend sei, andere um Hilfe zu bitten. Sie glauben, sie müssten mit ihren Herausforderungen und Notsituationen allein fertigwerden.
Hier ist Sisu keine positive Erscheinung. Denn diese Menschen halten zwar durch, aber wie? Unter anderem mithilfe des Alkohols. Wir haben in Finnland ein großes Problem mit Alkoholismus. Sisu ist also kein Allzweckheilmittel. Das sehen wir auch an den Selbstmordraten in Finnland. Wir haben eine höhere Suizidrate als Deutschland. Sisu kann also durchaus negativ sein: wenn wir stumm leiden und ausharren, ohne unsere Situation zu reflektieren.
Was braucht es, um Sisu in eine positive Ressource zu verwandeln?
Es braucht Selbstreflexion. Sisu ist Kraft, mit der wir etwas anstellen können. Doch dazu müssen wir in uns selbst hineinhorchen. Es steht schon am Apollo-tempel in Delphi: „Erkenne dich selbst!“ Um Sisu positiv zu nutzen, müssen wir feststellen, was wir wirklich brauchen, wie wir vorgehen können, was wir ändern müssen.
Ist die Sauna als eine landestypische Tradition ein Ort, an dem Finnen dieser Selbstreflexion nachgehen?
Für Selbstreflexion ist die Sauna ein sehr guter Ort. Ein Ort, an dem die Gedanken zur Ruhe finden und der Einzelne bewusst fragen kann, was in ihm vorgeht. Einst war die Sauna ein heiliger Ort für solches Einkehren in sich selbst. Das ist sie zwar heute nicht mehr – aber sie ist für den Finnen nach wie vor ein Ort, an dem er mit seinen Gedanken allein sein kann.
Legt das kulturelle Konzept von Sisu nahe, dass der Einzelne mit seinen Krisen und Herausforderungen allein fertigwerden muss?
Wir müssen unsere Situation zwar selbst reflektieren – aber Sisu bedeutet nicht, dass wir die einsamen Helden sein müssen. Im besten Fall hilft Sisu, ein besonderes Gleichgewicht herzustellen. Ich bezeichne dieses Gleichgewicht hier einfach als Yin und Yang: Es geht nicht nur darum, um jeden Preis Härte zu beweisen, sondern durchaus auch darum, reflektiert eine weiche Seite an uns selbst zuzulassen. Wenn wir also merken, dass wir mit einer Krise oder einem Problem überfordert sind, dann sollten wir Sisu nutzen, um uns produktive Hilfe von außen zu holen, sei es von Fachleuten oder anderen Menschen, die mit unserer Art von Herausforderung vertraut sind.
Haben Sie eine Vermutung, wieso Finnland das kulturelle Konzept von Sisu entwickelt hat?
Wir sind ein verhältnismäßig großes Land. Von der Fläche her ist Finnland fast so groß wie Deutschland, hat aber nur sieben Prozent von dessen Einwohnerzahl, ist also viel dünner besiedelt. Sprich: Wir Finnen waren im Laufe der Geschichte sehr auf uns selbst gestellt. Da entwickelt man, wie ich denke, eine stoische Haltung: Man beißt die Zähne zusammen und macht weiter, weil niemand da ist, der einem helfen kann. Ich denke, im Alltag kam es da immer wieder zu Momenten, in denen Sisu unabdingbar war. Schauen Sie sich außerdem auch unsere geografische Lage an. Geschichtlich lagen wir zwischen den Großmächten Russland und Schweden. Wir waren jahrhundertelang der Underdog.
Ist der Begriff Sisu auch so alt?
Das Wort ist rund 500 Jahre alt. Es geht auf sisus zurück, was so viel meint wie: das Innere, die Gedärme. Das ist interessant, wenn Sie mich fragen. Denn bei meinen Umfragen stellte ich immer wieder fest, dass Finnen glauben, Sisu sei in der Bauchregion verortet. Die Antworten meiner Teilnehmer scheinen sehr intuitiv. Schließlich gewinnen wir unsere Kraft aus der Nahrung und dem Verdauungsprozess. Darüber hinaus dokumentieren ja neuerdings viele Studien einen Zusammenhang zwischen der Darmflora und der psychischen und körperlichen Gesundheit.
Was können wir in Deutschland von dem Konzept des Sisu lernen?
Sie können sich Ihrer eigenen Kraft bewusstwerden. Das kann unter anderem durch die Teilnahme an einer sportlichen Aktivität wie dem Marathon geschehen. Solche physische Betätigung hilft uns, einen Dialog mit unserem Körper, unseren Bedürfnissen und eben der Kraft in uns aufzubauen. Sisu meint aber nicht nur körperliche Kraft, sondern auch seelische. Ich weiß, dass wir uns im Alltag ungern an schwierige Momente oder gar Krisen unseres Lebens erinnern – aber ich lade dazu ein, dass wir uns vergegenwärtigen, welche enorme innere Stärke wir bereits in unserem Leben bewiesen haben.
Schreiben Sie Ihre eigene Sisu-Geschichte auf – jene Momente, in denen Sisu bei Ihnen zum Vorschein gekommen ist. Und um diese Energie bewusst einzusetzen, gilt es wie erwähnt auch, unsere Selbstreflexion zu fördern. Versuchen Sie es mit entsprechenden Formen der Meditation oder finden Sie Ihre eigene Aktivität, in der es Ihnen besonders leichtfällt, in sich hineinzuhorchen. Bei manchen ist das beim Musikhören so, bei anderen beim Spaziergang durch die Natur, bei wieder anderen sogar auf Partys.
Sie benutzen Sisu auch für soziales Engagement. Was genau unternehmen Sie?
Nach meinen persönlichen Erfahrungen mit häuslicher Gewalt habe ich die Non-Profit-Organisation „Sisu not Silence“ gegründet. Sie unterstützt Menschen mit ähnlichen Erfahrungen wie meinen. Es geht nicht nur um häusliche Gewalt, sondern um seelischen und körperlichen Missbrauch jedweder Form, etwa in der Schule oder auf der Arbeit. Mit Sisu wollen wir die Erfahrungen dieser Menschen in einen Kontext stellen, der ihnen hilft: Wir möchten ihnen deutlich machen, dass sie nicht Opfer, sondern enorm stark sind und aus ihrer Situation herausfinden und genesen können.
Hat Sisu Ihnen selbst auf diese Weise geholfen?
Es tut dies nach wie vor. Ich arbeite Tag für Tag daran, dass meine alten Wunden mich nicht beherrschen, sondern heilen. Ich führe mir vor Augen, was ich überstanden habe, was ich brauche, wer ich bin. Außerdem versuche ich, meine innere Kraft auch auf andere Weise zu nutzen: um mit meinen Mitmenschen besser und gerechter umzugehen. Ich möchte mein Mitgefühl stärken, aufmerksamer mit anderen sein. Das braucht Energie. Das braucht Sisu.
Welche größeren gesellschaftlichen Veränderungen würden Sie in dieser Hinsicht gerne in Ihrem Heimatland feststellen?
Ich merke, dass wir Finnen wenig Gespür dafür haben, was unsere Mitmenschen brauchen. Oder wir schenken diesem Gespür nicht genug Aufmerksamkeit. Ich würde mir wünschen, dass wir das ändern und bewusster miteinander umgehen.
Finnland wurde 2019 im „World Happiness Report“ erneut zum glücklichsten Land der Welt erklärt. Überrascht Sie das?
Finnland hat sicherlich eine starke Infrastruktur, die all jene Elemente vereint, von der Wissenschaftler festgestellt haben, dass sie mit Glücksgefühlen assoziiert sind: ein stabiles Justizsystem, ein gutes Gesundheitswesen, hohe Lebensqualität. Aber ich bin ein wenig skeptisch. Das glücklichste Land? Ich würde eher sagen: Wir Finnen sind durchaus zufrieden mit dem, was wir haben.
In meinen Augen sind wir nicht besonders materialistisch eingestellt. Das erleichtert es uns, zufrieden zu sein. Außerdem glaube ich, dass wir in Finnland generell weniger hochtrabende Erwartungen an unser Leben haben. Wo keine hochtrabenden Erwartungen sind, sind auch keine außerordentlichen Enttäuschungen und Krisen. Deshalb würde ich uns Finnen eher zufrieden als glücklich nennen. Doch ich habe das Gefühl, wir Finnen werden optimistischer.
Wir engagieren uns stärker in Politik und Gesellschaft. Wir halten nicht nur aus – sondern werden aktiv. Das gefällt mir sehr. Ich mag es ganz und gar nicht, wenn Menschen sich beschweren und kritisieren, ohne Lösungsvorschläge anzubringen. Menschen, die sich nur beschweren, ohne etwas zu unternehmen, sind Teil des Problems, nicht Teil seiner Lösung.
Vergessen wir zu oft, wie viel Kraft und Potenzial wir haben?
Das ist leider der Fall. William James hat es bereits vor über hundert Jahren beschrieben: Er hat von unserer Gewohnheit gesprochen, in „einer Unterlegenheit zu unserem vollen Selbst zu leben“ – the habit of inferiority to our full self. Wir haben viel mehr Ressourcen und Potenzial, als wir glauben. Und ich lade Sie ein, sich dessen jeden Tag bewusstzuwerden.
Zum Weiterlesen
Katja Pantzar: Sisu. Der finnische Weg zu Mut, Ausdauer und innerer Stärke. Bastei Lübbe, Köln 2018
Emilia Lahti hat Sozialpsychologie und anschließend positive Psychologie bei Martin Seligman an der University of Pennsylvania studiert. Sie stellt derzeit ihre Promotion an der Aalto University School of Science and Technology in Helsinki fertig