Herr Professor Greifeneder, manche Menschen taten sich zu Beginn der Coronakrise noch schwer, sich in ihren sozialen Kontakten einzuschränken und räumlich Distanz zu halten. Waren diese Menschen unsolidarisch?
Für mich nur dann, wenn sie wider besseres Wissen gehandelt haben. Aber das Wissen darum, wie ansteckend das Virus tatsächlich ist und wie gefährlich es sein kann, hat sich in den vergangenen Wochen erst nach und nach durchgesetzt und massiv verändert. Ich will gerne an einem Beispiel erläutern, wie ich das mit dem Wissen meine: In Großbritannien gab es zunächst die Strategie, dass möglichst viele bald erkranken sollten, damit sich schnell eine so genannte Herdenimmunität entwickelt. Wer sich in dieser Zeit nicht einschränkte, handelte nicht unsolidarisch, sondern im Einklang mit der Strategie. Großbritannien hat diese Strategie im Übrigen zwischenzeitlich aufgegeben. Für mich beinhaltet das relevante Wissen heute vier Aspekte: Erstens, die Anzahl der Kontaktpersonen sollte so gering wie möglich sein und sich möglichst nicht ändern. Zweitens, zu allen anderen räumliche Distanz halten, die VirologInnen empfehlen zwei Meter. Drittens Hand- und Krankheitshygiene. Viertens nicht hamstern. Wer nach diesem Wissen handelt, handelt in meinen Augen aktuell solidarisch.
Macht Wissen allein uns solidarischer?
Nein, es ist nicht ausreichend, aber eine wichtige Voraussetzung.
Unter welchen Umständen sind Menschen gerne solidarisch?
Wenn wir merken, dass wir aufeinander angewiesen sind, fällt es leichter, und wenn uns die jeweilige Solidargemeinschaft wichtig ist, also zum Beispiel Familienangehörige, KollegInnen, Freunde. Entscheidend ist auch, ob wir dieser Gruppe vertrauen und annehmen, dass sich alle anderen auch solidarisch verhalten. Denn solidarisch handeln kann in vielen Fällen bedeuten, dass man die Ziele der Gemeinschaft über die eigenen stellt.
Beim Coronavirus – das ist derzeit anders als gewohnt – ist diese Gruppe, der wir vertrauen müssen, plötzlich riesig, es ist die ganze Menschheit. Ein gemeinsames Ziel gibt es: Gesund bleiben und Gefährdete schützen. Und wir haben einen Gegner, das Coronavirus. Im Normalfall ist es für Solidarität hilfreich, wenn es einen „Gegner“ gibt, der auch sichtbar und greifbar ist. Was Solidarität noch erleichtert, ist das Gefühl, wirksam zu sein, also zu wissen: Was ich tue, macht einen Unterschied. Es ist nicht egal, ob ich mich einschränke oder nicht. Und Optimismus und gute Laune helfen ebenfalls. Die Forschung zeigt, dass sich ein gutes Gefühl der Belohnung einstellen kann, wenn wir anderen helfen.
Welche Umstände erschweren es uns, solidarisch zu sein?
Solidarität kann ausbleiben, wenn man Bedürftigkeit anderer nicht wahrnimmt – wofür derzeit die Situation auf Lesbos ein gutes Beispiel ist. Ich bin der festen Überzeugung, die Geflüchteten dort bekämen mehr Aufmerksamkeit und Hilfe, wäre das Coronavirus nicht. Erschwerend ist auch, wenn Ressourcen fehlen, damit meine ich finanzielle, materielle, gesundheitliche und psychologische. Und es wirkt sich nachteilig aus, wenn in einer Gesellschaft das Gefühl vorherrscht, es seien alle Einzelkämpfer, wenn die Anonymität sehr groß ist.
Wem gegenüber sind Menschen am liebsten solidarisch?
Je besser wir diejenigen kennen, desto lieber sind wir solidarisch, also Freunden und der Familie gegenüber oder unserem Team bei der Arbeit. Die Bedürftigkeit anderer wahrzunehmen und anzuerkennen, ist ebenfalls eine wichtige Voraussetzung. Und wir geben gern, wenn wir das Gefühl haben, von anderen auch etwas zurückzubekommen—oder andere schon etwas gegeben haben. Das ist das Prinzip der Reziprozität, wie die Sozialpsychologie es nennt, also der Gegenseitigkeit.
Was sich in der aktuellen Coronakrise besonders zeigt: Wir sind auch denjenigen gegenüber solidarisch, die jetzt für alle entscheidende Aufgaben übernehmen, wie Ärzt*Innen und Pfleger*Innen, Kassierer*Innen im Supermarkt, Post- und Paketzusteller*innen, Bus- und Straßenbahnfahrer*innen, Lokführer*innen und andere.
Welchen Menschen gegenüber sind wir ungern solidarisch?
Das sind diejenigen, bei denen wir den Eindruck haben, dass sie die gemeinsame Sache nicht unterstützen.
Wie schafft man es, diese Form der Solidarität über einen längeren Zeitraum hinweg zu leben?
Hilfreich kann es sein, sich zu fragen, wie man später einmal über diese Krise sprechen will. Was möchte ich sagen können, wie möchte ich das erzählen? Es ist darüber hinaus sinnvoll, dass man sich selbst als Vorbild sieht. Genauso wichtig ist: Wir sollten niemanden moralisch verurteilen, der vielleicht nicht so Maß hält wie wir, weil wir die Ausgangssituation dieser Person nicht kennen. Wer in beengten und vielleicht konfliktreichen Verhältnissen lebt, muss einfach häufiger rausgehen und vergisst vielleicht mal für einen kurzen Moment, räumlichen Abstand zu halten.
Was mache ich, wenn ich den Eindruck habe, dass ich mich selbst damit schwertue?
Ich kann meine aktuellen Verhältnisse genau beleuchten und fragen: Mit was genau tue ich mich eigentlich schwer? Vielleicht bin ich generell gerade mit meiner Situation nicht so zufrieden – aber in der Coronakrise gibt es jetzt das übergeordnete Ziel, die Gesundheit aller zu schützen und es gibt diese riesige Gemeinschaft, die ganze Menschheit. Mir ist sehr wichtig, an dieser Stelle zu ergänzen: Weltweit wurden Grenzen geschlossen, aber nicht, um Menschen auszuschließen, sondern um dem Gegner, dem Virus, die schnelle Verbreitung zu erschweren.
Rainer Greifeneder ist Professor für Sozialpsychologie an der Universität Basel.