Wir werden Zeugen eines intensiven Dialogs. Dafür sorgen der Soziologe Wolfgang Engler und die Autorin und Journalistin Jana Hensel. Ihr Buch besteht aus einem einzigen langen Gespräch und trägt den Titel Wer wir sind. Die zwei Dialogpartner wollen hier von der ostdeutschen Nachwendegeschichte erzählen. Das sei wichtig, wolle man die Popularität neurechter Gruppen und andere politische und gesellschaftliche Phänomene im heutigen Osten begreifen. „Klipp und klar: Der überdurchschnittliche Erfolg der AfD in den neuen Ländern findet seine so gut wie vollständige Erklärung in den Erfahrungen, die Ostdeutsche nach 1990 sammelten, und eben nicht im Rekurs auf ihren vermeintlich obrigkeitsstaatlichen, führerorientierten DDR-Habitus“, betont Engler.
Ein Gefühl der Heimatlosigkeit
Einige Leser werden womöglich zu dem Buch greifen, um die Ereignisse in Chemnitz im vergangenen Jahr ein Stück weit nachvollziehen zu können. Sie werden hier unter anderem von dem Gefühl der Heimatlosigkeit lesen. „Ein Unbehaustsein, das sich nicht jeden Tag übergroß vor einem aufstellt, aber das immer spürbar ist, nie weggeht.“
Hensel war zur Wendezeit 13 Jahre alt. Bekannt wurde sie durch ihr Buch Zonenkinder, in dem sie über ihre Kindheit und Jugend in der DDR sowie über die Wende schrieb. Engler ist Jahrgang 1952 und stammt aus Dresden. Der Kultursoziologe sorgte im Jahre 2002 mit seinem Essay Die Ostdeutschen als Avantgarde für Aufsehen.
Verlust, der nach Kompensation ruft
Engler thematisiert die „Absturz- und Verlusterfahrungen“ der Ostdeutschen, „die nach Kompensation auf symbolischer Ebene riefen“. Er spricht auch über die Außenwahrnehmung der Ostdeutschen als „Jammerossis“, die den Menschen der ehemaligen DDR suggeriere, dass sie sich von den Westdeutschen in vielerlei Hinsicht unterschieden: in ihren Ansichten und Gewohnheiten – selbst in den sprachlichen.
Die sprachlichen Unebenheiten des Buches ergeben sich durch das gesprochene Wort: Der Dialog wurde nicht weiter verändert, lediglich transkribiert. Dadurch mangelt es dem Buch an Lesefreundlichkeit, echte Verständnisschwierigkeiten tauchen aber nur selten auf.
Für jene Leser, die ein besseres Gefühl für die Identität der Ostdeutschen bekommen möchten, ist das Buch ein Ansatzpunkt. Eine tiefgründige analytische Auseinandersetzung mit dem Thema bleibt indes aus. Eine solche kann es in dieser Gesprächsform nicht geben – zumindest nicht mit zwei Rednern, die über ein grundlegend unterschiedliches „analytisches Arsenal“ verfügen. In Hensel kommt immer wieder die politisch engagierte – oder zumindest orientierte – Journalistin durch, die ethisch bewertet; in Engler der akademische Soziologe, der Sachverhalte mit wissenschaftlichem Abstand angeht und sie kritisch hinterfragt.
Diese zwei Kräfte sorgen zweifelsohne für ein lebendiges Gespräch, das nicht nur Konsens, sondern auch spannenden Dissens bereithält.
Wolfgang Engler, Jana Hensel: Wer wir sind. Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein. Aufbau, Berlin 2018, 288 S., € 20,–