Hoher Druck im Leistungssport

Viele Leistungssportler im Fußball und anderen Sportarten haben wegen des dauerhaften Drucks psychische Probleme. Sie sollten sich Hilfe holen.

Kameras zeigen auf Fußballnationalspieler Timo Werner, der nach Testspiel am Spielfeldrand steht
Wie Nationalspieler Timo Werner sind Leistungssportler fast ununterbrochen der Beobachtung ausgesetzt. © imago-sportfoto

Herr Professor Bär, Sie bieten eine Sprechstunde für Profisportler mit psychischen Störungen an. Warum brauchen Fußballer, Skispringer oder Turner ein solches Angebot – gibt es nicht in den Vereinen und Teams psychologische Hilfe?

Es ist richtig, dass den Spielern der Fußballnationalmannschaft und zum Teil auch anderen Leistungssportlern heute ein Sportpsychologe zur Seite gestellt ist, was ich auch sehr gut finde. Doch deren Aufgabe ist vornehmlich, die Leistungsfähigkeit der Athleten zu steigern, ihnen mentale Strategien zu vermitteln, mit denen sie im Wettkampf besser bestehen können. Um die Förderung der seelischen Gesundheit von Sportlern geht es da nur am Rande.

Wir als Sportpsychiater setzen genau da an: Uns interessiert, wie Leistungssportler ihre psychische Gesundheit erhalten können. Und auf welche Art sie wieder gesund werden, wenn sie Depressionen, Ängste oder Essstörungen entwickeln.

Die Sportpsychiatrie steckt noch in den Kinderschuhen. Wieso braucht man diese Spezialisierung?

In den USA gibt es diese psychiatrische Fachrichtung schon lange. Hierzulande machen Psychiater sich seit etwa fünf bis zehn Jahren für dieses Thema stark. Anlass war der Suizid des Torwarts Robert Enke, der beim Erstligaverein Hannover 96 spielte und auch an einer Depression litt. Durch seinen Tod kam das Thema psychische Erkrankungen von Fußballern erstmals einer breiten Öffentlichkeit zu Bewusstsein – und auch in Fachkreisen kamen Diskussionen in Gang, wie man Leistungssportlern mit seelischen Störungen gezielt helfen könnte.

Was sind denn die speziellen psychischen Schwierigkeiten, mit denen Leistungssportler zu tun haben?

So sehr unterscheiden sich Sportler in ihren seelischen Leiden zunächst gar nicht von der Normalbevölkerung. Doch eine entscheidende Schwierigkeit, die etwa Fußballprofis begleitet, ist die Sichtweise auf psychische Erkrankungen in ihrem Umfeld.

Von Leistungssportlern dachte man lange, dass sie körperlich und mental so stark sind, dass sie unmöglich an psychischen Erkrankungen leiden können. Wie man jetzt sieht, war das ein fataler Fehlschluss, der sowohl die psychotherapeutische Versorgung von Sportlern als auch die Forschung jahrelang behindert hat. Wir dürfen Spieler nicht weiter so unreflektiert heroisieren.

Wer hat denn ein Interesse daran, Sportler als ungebrochene Helden anzusehen – und ihnen keine Schwächen zuzugestehen?

Die Erwartung ist omnipräsent. Zum einen ist es natürlich das System Leistungssport, das Stärke als Sieg definiert und ja auch nur die Stärksten belohnt. Zum anderen ist auch das Publikum beteiligt, das etwa bei einer Fußballweltmeisterschaft erfolgreiche und durchsetzungsfähige Spieler sehen will, die kämpfen können – aber keinen Sportler mit Schwächen, Depressionen oder Ängsten. Diese Ansprüche haben natürlich auch die Spieler verinnerlicht – viele fürchten, als Schwächlinge dazustehen, wenn sie sich aufgrund von psychischen Schwierigkeiten Hilfe holen.

Wenn also ein Profifußballer an einer Depression erkrankt, traut er sich nicht, das zuzugeben ...

Dass viele Menschen über eine bestehende Depression nicht offen sprechen, zieht sich generell durch die Bevölkerung. Doch im Profifußball ist die Angst vor Stigmatisierung ungleich höher. Häufig ist es eine Mischung aus Sorge und Unwissenheit, die Sportler zurückhält: Viele sind so auf ihren Körper und seine Leistungen fokussiert, dass sie nicht einmal wissen, dass Depression behandelbar ist. Hat ein Sportler einen Knochenbruch, wird darüber in den Medien ausführlich berichtet, keiner bezweifelt, dass medizinische Hilfe wirksam ist. Ich würde es gut finden, wenn Spieler auch über seelische Leiden offener kommunizieren könnten.

Der Exnationalspieler Per Mertesacker hat neulich in einem Interview berichtet, wie groß die Anspannung war, unter der er während seiner Profikarriere stand. Er litt an Durchfall, Brechreiz, Schlafstörungen. Wie bewerten Sie seinen Bericht?

Ich bin vorsichtig damit, die Diskussion um psychische Erkrankungen im Profisport an einer Handvoll Einzelfälle zu führen. Das weckt den falschen Eindruck, es gäbe nur diese wenigen Schicksale. Doch die Offenheit von Per Mertesacker empfinde ich als einen Schritt in die richtige Richtung. Seine Schilderung ermöglicht Außenstehenden einen konkreten Einblick, wie belastend Profisport sein kann – und ­welche psychosomatischen Beschwerden entstehen können.

Auch die öffentlichen Reaktionen auf seine Schilderung sind ja bezeichnend: Es gibt anerkennende Stimmen, die seinen Mut loben. Und es gibt abwertende Kommentare, die sich darüber mokieren, dass jemand, der „zu schwach für diesen Sport ist“, doch bitte aufhören sollte. Beide Sichtweisen existieren in der Sportwelt.

Immer wieder geht es bei Fußballern speziell um Depressionen. Sind diese bei Spielern besonders verbreitet?

Der Eindruck, dass depressive Symptome im Fußball so präsent sind, entsteht wohl eher, weil die Wahrscheinlichkeit, an einer Depression zu erkranken, generell hoch ist: 17 Prozent der Bevölkerung erkranken irgendwann während ihres Lebens, das ist jeder Sechste. Wenn man diese Statistik schlicht auf die Welt des Fußballs überträgt, muss die Dunkelziffer unter Spielern hoch sein.

Hat der Druck im Profifußball in den letzten Jahren zugenommen?

Natürlich. Man braucht sich nur die Kalender der Spieler anzugucken, die immer voller werden, die eng getakteten Trainingszeiten, die stark strukturierten und reglementierten Ernährungs- und Stundenpläne.

Dazu kommt, dass heute fast jedes Spiel übertragen wird, dass in allen Medien ausführlich über die Leistung von einzelnen Spielern diskutiert wird, auch in den sozialen Netzwerken gibt es zusätzliche Bewertungen und Kommentare, die oft sehr drastisch sind. Damit sind viele der früheren Freiräume verlorengegangen. Die Spieler können quasi gar nicht mehr abtauchen, sind ständig mit ihrer Leistung und Leistungsoptimierung konfrontiert. Das war vor zwanzig Jahren deutlich anders.

Sind Depressionen von Sportlern dann letztlich eher Burnoutsymptome – also Anzeichen, dass der Druck von außen zu groß geworden ist?

Den erhöhten Druck in der Welt des Profisports gibt es. Doch die Bezeichnung Burnout finde ich in dem Zusammenhang irreführend. Psychisch belastete Sportler verwenden das Label in der Öffentlichkeit natürlich gern, weil es offenbar salonfähiger ist. Man ist zusammengebrochen, weil man so viel geleistet hat, die Anforderungen waren zu hoch, die Umstände waren schuld.

Diese einseitige Zuschreibung ist problematisch: Es gibt auch immer eine Eigenverantwortlichkeit, die seelische Gesundheit zu erhalten. Jeder kann auch selbst entscheiden, was er mitmacht, muss dem Druck aktiv begegnen, um besser damit umgehen zu können. Oft reichen die üblichen Antistressprogramme nicht aus. Eigentlich sollten Leistungssportler schon zu Beginn der Karriere mehr für die seelische Gesundheit tun – bevor der Druck kommt.

Warum ist Ihnen dieser Punkt wichtig?

Depression ist ein komplexes Geschehen. Neben den Umständen spielen immer biografische, persönlichkeitsspezifische und genetische Faktoren eine Rolle. Nur wer das versteht, kann etwa in einer Psychotherapie an seinem Leiden arbeiten. Für Sportler ist es außerdem zentral, dass sie verstehen, dass Depression eine Krankheit von Körper und Psyche ist, da gibt es komplexe Wechselwirkungen:

Während der Erkrankung verändern sich die Leistungsfähigkeit, der Hormonstatus, das Immunsystem, so dass etwa bei depressiven Sportlern die Anfälligkeit für Infekte erhöht sein kann oder Verletzungen weniger gut ausheilen. Umgekehrt tragen oft auch Verletzungen dazu bei, dass die Niedergeschlagenheit steigt. Diese Wechselwirkungen zwischen Seele und Körper zu kennen ist für Athleten bedeutsam – und auch für den Heilungsprozess.

Wie reagiert ein Profifußballer, dem Sie erklären, dass eine psychische Erkrankung dazu beitragen kann, dass seine Verletzung schlechter heilt?

Für viele ist die psychosomatische Sichtweise komplett neu, sie sind erstaunt und manchmal auch abwehrend. Das wäre für mich ganz allgemein eine lohnende Entwicklung im Profisport: Wenn etwa Fußballer lernen würden, von Anfang an die Verantwortung für ihren Köper und für ihre Seele zu übernehmen, wäre das eine sehr effektive Prävention in Bezug auf psychische Erkrankungen.

Wenn depressive Sportler in Ihre Sprechstunde kommen – mit welcher Therapie gehen Sie vor?

Die Leitlinien empfehlen eine Kombination aus Psychotherapie und Medikamenten. Wir bieten beides. Bei den Medikamenten ist es wichtig, dass sie mit den Dopingrichtlinien in der jeweiligen Sportart zusammenpassen. Sehr häufig geht es den Sportlern bald besser. Viele können an ihre Karriere bald wieder anknüpfen. Nur wenige steigen aus dem Sport aus.

Viele Fußballer opferten ihre Kindheit dem Sport, verließen früh ihre Familien, lebten in Internaten. Können auch diese biografischen Prägungen Risiken für die Psyche bergen?

Das ist Typsache. Manchen Jugendlichen geht es in Sportinternaten besser als zu Hause. Darüber hinaus gibt es Kinder, denen eine leistungsorientierte ­Talentförderung sehr entspricht. Natürlich ist auffällig, dass Fußballer früh und ständig mit dem Thema Leistung konfrontiert sind, dass auch die Freunde im Internat letztlich Konkurrenten sind. Wir ­raten Profis deshalb oft, sich ein stabiles soziales Umfeld aufzubauen, das mit dem Fußball nichts zu tun hat. Viele finden da auch Wege.

Welche seelischen Probleme haben Leistungssportler in anderen Disziplinen?

Bei Gymnasten, Turnern, Tänzern, letztlich bei allen Sportarten, die mit Gewichtsklassen zu tun haben, sind Essstörungen überdurchschnittlich verbreitet. Die Athleten versuchen, ihr Gewicht rigide zu regulieren – und oft verselbständigen sich die Kontroll-strategien. Man spricht in diesem Zusammenhang von einer Anorexia athletica.

Einige der Sportler können ihr problematisches Essverhalten nach der Karriere ablegen. Andere gleiten während der aktiven Zeit in das Vollbild einer Magersucht ab. Dann wird ein Weitermachen oft unmöglich. Unser Interesse ist auch hier, dass Sportler uns schon zu Beginn einer Essstörung aufsuchen.

Gibt es eigentlich auch Leistungssportarten, die stabilisierend auf die Psyche wirken?

Sport an sich schützt die Seele, ebenso wie Singen oder Musizieren. Doch wenn aus einem Hobby ein Leistungssport wird, dann nimmt dieser die Person so in Beschlag, dass die psychoprotektive Wirkung ausgehebelt wird. Auch hier gibt es wieder Parallelen zur Musik. Wir wissen, dass Laienchorsänger in der Regel gesünder sind als andere Menschen, aber in dem Moment, wo jemand professionell singt, nehmen die psychischen Risikofaktoren sofort zu: der Stress der Öffentlichkeit, die Leistungsanforderung, die Unsicherheit, die das Berufsbild mit sich bringt. Dazu müssen Profis im Bereich Sport und Musik eine Einstellung finden.

Generell: Was für eine Entwicklung wünschen Sie sich für den Umgang mit psychischen Erkrankungen im Leistungssport?

In den letzten zehn Jahren ist viel in Bewegung gekommen. Das Tabu ist aufgebrochen. Einige Vereinsvorstände, Trainer oder Spieler sind offener geworden. Wir würden uns wünschen, noch mehr mit den Sportpsychologen der Vereine zusammenzuarbeiten. Es sollte normal sein, dass ein seelisch belasteter Spieler einen Sportpsychiater aufsucht – und sich so selbstverständlich Hilfe holt wie bei einem Bänderriss.

Davon sind wir allerdings weit entfernt: In meine Sprechstunde kommen die Profis nach wie vor mit Sonnenbrille und vorwiegend am Wochenende. Das respektiere ich natürlich, doch ich hoffe, es kommt eine Zeit, wo so viel Vorsicht nicht mehr nötig sein wird.

Karl-Jürgen Bär ist kommissarischer Direktor der ­Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Jena. Er bietet eine Sprechstunde für Profisportler mit psychischen Erkrankungen an.

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2018: Kann ich mich ändern?
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