Frau Döpfner, weshalb gilt ein guter Selbstwert als der protektive Faktor für eine gesunde psychische Entwicklung von Kindern?
Ein guter Selbstwert ist gewissermaßen ein Schutzmantel, der uns hilft, besser mit den Widrigkeiten des Lebens umzugehen: Er schützt vor Angst, verhindert Depressionen und hilft, sich nicht so leicht aus der Bahn werfen zu lassen. Kinder mit einem negativ verzerrten Selbstbild tun sich schwerer, Freundschaften zu schließen und angemessen mit sozialen Situationen umzugehen. Haben Jugendliche einen starken Selbstwert, so sind sie besser in der Lage, sich von schädigenden Einflüssen wie etwa Drogenkonsum abzugrenzen. Längsschnittstudien zeigen außerdem positive Auswirkungen eines hohen Selbstwerts auf die schulischen Leistungen von Kindern. Es gibt also viele Gründe, einen guten Selbstwert als einen Schatz zu bezeichnen – ihren Kindern zu helfen, diesen zu entwickeln, ist der größte Liebesdienst, den Eltern ihnen erweisen können.
In welchem Alter entwickelt sich das Selbstwertgefühl?
Die Bindungserfahrungen mit der wichtigsten Bindungsperson – also meist der Mutter – in den ersten Jahren entscheiden darüber, ob ein Kind sich sicher gebunden fühlt. Eine Studie des Entwicklungspsychologen Ulrich Orth zeigt, dass die Erziehung und die Förderung durch die Eltern in den ersten sechs Jahren einen bis ins Erwachsenenalter anhaltenden Einfluss auf den Selbstwert haben. Außerdem hat Ulrich Orth herausgefunden, dass der Selbstwert typischerweise im Laufe der Kindheit wächst, daraufhin stagniert er – anders als lange Zeit angenommen – in der Pubertät.
In den folgenden jungen Erwachsenenjahren steigt er stark an, um dann mit 60 bis 70 Jahren den Höhepunkt zu erreichen, bevor er im hohen Alter wieder sinkt. Gleichzeitig hat sich aber auch herausgestellt, dass die Unterschiede, die zwischen gleichaltrigen Menschen bestehen, ziemlich stabil bleiben. Wer also als Teenager mit vielen Selbstzweifeln zu kämpfen hat, wird damit wahrscheinlich auch noch mit 30, 40 oder 50 Jahren zu tun haben – zumindest im Vergleich zu Altersgenossinnen und -genossen, die bereits als junge Menschen mit einem größeren Selbstwert ausgestattet waren.
In Ihrem Buch widmen Sie ein Kapitel dem Thema „selbstwertstärkend loben“. Wie geht das?
Wenn wir undifferenziert und inflationär loben, also etwa jedes zweite Bild mit „super, schön“ und jedes Klettern aufs Klettergerüst mit „toll“ bedenken, trainieren wir Kindern den Hunger auf Lob an. Dies führt dazu, dass sie als Maßstab für ihr Handeln immer mehr unsere Beurteilung ansetzen und immer weniger aus intrinsischer Motivation handeln. Außerdem erlebt ein Kind, das sehr auf das Lob seiner Eltern fixiert ist, die Elternliebe nicht mehr als bedingungslos, sondern als an positive Beurteilungen geknüpft. Kindern ist die liebevolle Aufmerksamkeit ihrer Eltern wichtig, Lob ist gar nicht zwingend. Eltern können also ihr Kind, das stolz vom Apfelbaum, auf den es geklettert ist, „Guck mal, Papa!“ ruft, anlächeln und ihm zurufen: „Ich seh dich. Du bist ganz nach oben geklettert“ – und versuchen, den Bewertungsimpuls („Toll!“ „Ganz große Klasse!“) zu unterlassen.
Natürlich kann man in ausgewählten Situationen, in denen man wirklich von dem Verhalten des Kindes beeindruckt ist, auch seine Freude teilen und sagen: „Wow, das ist dir großartig gelungen!“, aber eben nur in ganz besonderen Momenten.
Interview: Katrin Brenner
Ulrike Döpfner studierte Psychologie und ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin
Ulrikes Döpfners Buch Der Schatz des Selbstwerts. Was Kinder ein Leben lang trägt ist bei Beltz erschienen (298 S., € 20,–)