Was kommt im täglichen Umgang zwischen Erwachsenen und Kindern zu kurz?
Oft sind es die Aktivitäten, die nicht in erster Linie den erzieherischen Bereich der Eltern oder die Lernbereiche in der Schule betreffen. Kürzlich sah ich einen Vater mit seinen Kindern im Park spazieren gehen. Das ungefähr siebenjährige Mädchen blieb etwas zurück, weil es eine Sonnenblume entdeckt hatte, die es sich sehr genau anschaute. Der Vater rief sie in recht barschem Ton zu sich. Er hat sich in keiner Weise für das interessiert, was seine Tochter interessierte. Er „erzieht“ das Kind, indem er es ruft und es ermahnt, zu ihm zu kommen. Erziehung könnte aber gerade hier darin liegen, die Tochter zu fragen: „Was war denn los mit der Sonnenblume?“ Oder: „Was hast du gerade entdeckt?“ Der Vater übersieht ihre Neugier.
Sie haben für Ihr Buch mit Grundschülern gesprochen. Was entgegnen die, wenn Sie fragen, ob sie sich von Erwachsenen gesehen fühlen?
Zum Beispiel: „Wenn meine Eltern mich sehen und mit mir reden, dann gibt das gute Gefühle. Dann hüpft es in meiner Seele!“ Oder: „Manchmal fühle ich mich, als wäre ich Luft. Dabei bin ich doch da!“ Nicht alle Kinder fühlen sich gesehen, aber ausnahmslos alle wünschen sich, gesehen zu werden. Sie sehnen sich nach Zuwendung und Beachtung. Das ist ein Grundbedürfnis. Sie sind glücklich, wenn wir uns ihnen zuwenden, auch mal ganz ohne Erziehungsanforderungen und Leistungsansprüche.
Bei Kindern mit auffälligem Verhalten fällt das manchem schwer. Was geht in diesen Kindern vor?
Kinder, die zum Beispiel stören, sozial unangemessen agieren oder provozieren, stehen mit diesem Verhalten zwar pausenlos im Mittelpunkt, haben aber trotzdem oft ein defizitäres, eher negatives Selbstbild. Sie haben kein Bewusstsein für ihre Fähigkeiten und Stärken. Es sind nach meiner Erfahrung entmutigte Kinder. Oft bekommen sie nur dann Beachtung, wenn sie stören, ansonsten werden sie eher links liegengelassen. Wenn ein Kind die Wahl hat, unbeachtet zu bleiben oder, wenngleich mit negativen Mitteln, beachtet zu werden, dann wählt es in der Regel die zweite Variante. Die Kinder bekommen dann viel Kritik und wenig Anerkennung, ihr negatives Selbstbild verfestigt sich weiter – und damit auch der Einsatz destruktiver Mittel.
Im Verwöhnen kann wiederum auch eine Gefahr liegen, sagen Sie. Wieso?
Alles, was Erwachsene den Kindern abnehmen, können diese nicht lernen. Folglich bekommen sie wenig Anerkennung von außen und entwickeln an diesen Stellen kein Selbstbewusstsein. Da der Leistungsanspruch der Eltern aber in vielen Fällen bestehen bleibt, kann es sich für ein Kind so anfühlen, als würde man einem Sportler Höchstleistungen abverlangen, ihm aber das dafür erforderliche Training nicht zumuten, weil das zu anstrengend sein könnte. Eltern wiederum, die sich zu stark in den Dienst ihres Kindes stellen, laufen Gefahr, sich selbst klein zu machen, und sind dann nicht mehr die Respektspersonen, die sie sein möchten – und die ihr Kind braucht.
Beate Letschert-Grabbes Buch Das übersehene Kind. Wenn „Super!“ zu wenig und VerwöhnenVernachlässigen ist ist bei Beltz Juventa erschienen, (260 S., € 19,95)
Dr. Beate Letschert-Grabbe ist individualpsychologische Beraterin und Supervisorin. Sie leitete eine Grundschule und war Lehrbeauftragte an der Universität Hamburg. Einer ihrer Arbeitsschwerpunkte ist der Umgang mit destruktivem Verhalten und Möglichkeiten der Ermutigung