Die Bindungstheorie ist zu einem gesellschaftlichen Phänomen geworden. Sie dominiert beispielswiese die Familienberatung, ist in der Frühpädagogik allgegenwärtig und dient als Grundlage von Entscheidungen an Familiengerichten. Seit ihren Anfängen in den 1950er, 1960er Jahren hat sie einen ungeheuren Siegeszug in der westlichen Welt angetreten, der bis heute anhält.
Dabei werden die Familienbeziehungen bewertet, und das Interesse und die Erziehungsbereitschaft von Familien werden infrage gestellt. Doch zunehmend formiert sich massive Kritik an der Bindungstheorie. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus Psychologie, Anthropologie und Biologie stellen die fundamentalen Annahmen infrage. Praktikerinnen erkennen die Grenzen – besonders in der Arbeit mit Familien, die nicht der Mittelschicht angehören.
Dabei entspricht die Bindungstheorie noch nicht einmal den Kriterien für eine gute wissenschaftliche Theorie. Es beginnt mit der Definition von Bindung: Bindung ist als Beziehungsqualität zwischen einem kleinen Kind und einer Bezugsperson definiert, wird aber in der Regel als Persönlichkeitsmerkmal des Kindes ausgelegt.
Ein verfehlter Universalitätsanspruch
Auf der Basis dieser (Fehl-)Annahme wird die Bindungsqualität als entscheidend für die weitere Entwicklung des Kindes angesehen. Hinzu kommt: Das Konzept der Sensitivität der Mütter, die für eine gute Bindung erforderlich sein soll, ist unklar. Und die starken Zusammenhänge zwischen Sensitivität und Bindungsqualität, die Mary Ainsworth in der Baltimore-Studie gefunden hatte, sind nie mehr repliziert worden.
Die Bindungstheorie reklamiert einen Universalitätsanspruch, den sie nicht einlöst. Denn in Wahrheit basiert sie ausschließlich auf dem Muster der westlichen Mittelschichtfamilie: Erwachsene sind Bindungspersonen, Interaktionen sind exklusiv, dyadisch, Emotionen werden geäußert, und das Verhalten der Bezugsperson ist am Kind orientiert. Dieses Muster trifft für die Mehrheit der Weltbevölkerung nicht zu, wie vielfach dokumentiert.
Dennoch macht die Bindungstheorie Vorgaben, wie eine gute Bindung zu sein hat. Dies stellt hohe Anforderungen an die Bezugsperson, die ja in diesem System verantwortlich ist: Die geforderte uneingeschränkte emotionale Verfügbarkeit und das unbedingte feinfühlige Reagieren überfordern viele Mütter – bis hin zu der Entwicklung schwerwiegender psychiatrischer Symptome. Forscherinnen bezeichnen dieses durch die Bindungstheorie entstandene Problem als parental burnout. Und es sind die Mütter, die in der Regel davon betroffen sind.
Die Bindungsforscher betonen zwar wiederholt, mittlerweile werde in der Theorie auch die Möglichkeit mehrerer Bezugspersonen zugelassen – doch diese werden in einer Hierarchie gesehen, in der die Mutter ganz vorne steht. Entsprechend wird es auch in der Praxis gehandhabt, ungeachtet des tatsächlichen Beziehungsnetzwerks eines Kindes. Die Bindungstheorie bedient ein bestimmtes Familienbild, das im wahrsten Sinne des Wortes weltfremd ist.
Heidi Keller ist Entwicklungs- und Kulturpsychologin und war Professorin an der Universität Osnabrück. Sie ist Direktorin von Nevet an der Hebrew University in Jerusalem. Sie forscht über Sozialisation im Kulturvergleich und den Wandel von Erziehungsideologien