Frau Soliman, was genau versteht man unter Ghosting?
Der Begriff Ghosting kommt aus den USA und beschreibt das Phänomen, wenn Menschen, mit denen man sich verabredet, verbindet, befreundet oder gar verpartnert, sich eines Tages plötzlich in Luft aufzulösen scheinen. Anrufe oder Nachrichten bleiben unbeantwortet. Es wirkt so, als habe man es bloß mit einem Hologramm oder einem rahmenlosen Körper zu tun gehabt, eben einem Gespenst oder einem Geist.
Es ist ein Akt der plötzlichen Aufhebung der Kommunikation mit jemandem. Dies geschieht in der Hoffnung, dass die Person realisiert, dass kein Kontakt mehr erwünscht ist, ohne es der Person mitteilen zu müssen.
Ist Ghosting nicht einfach ein Anglizismus für das Phänomen des Kontaktabbruchs, das Sie bereits vor acht Jahren in Ihrem Buch Funkstille beschrieben haben?
Sicher sind beide Phänomene verwandt, und es gibt Schnittmengen. Aber auch wesentliche Unterschiede: Bei der Funkstille flieht der Abbrecher meistens aus einer Situation, die ihm unlösbar, ja ausweglos erscheint. Er will sich schützen, muss flüchten, um zu überleben. Funkstille ist eine Flucht, eine existenzielle Ausnahmesituation, ein existenzieller Notstand. Bei der Funkstille sucht also der Inhalt, etwa der Notstand, nach einer Form, also dem Abbruch.
Beim Ghosting ist es genau umgekehrt. Hier bestimmt die Form den Inhalt: Das Verschwinden beim Ghosting besagt „Du bist nicht da“ oder „Ich bin nie da gewesen“. Ghosting ist bequemer, abgeklärter und kälter als die Funkstille. Und Ghosting ist auf den ersten Blick für den Abbrecher mit weniger Emotionen verbunden. Wer in die Funkstille entweicht, ist ein Ausbrecher. Wer andere ghostet, ist ein Abbrecher.
Funkstille wird – in Familien – als rein privat, sogar tabubehaftet angesehen, hingegen ist Ghosting in partnerschaftlichen oder freundschaftlichen Beziehungen auffallend gesellschaftsfähig geworden.
Welche Rolle spielt die Art des Kennenlernens für die Weise, wie eine Beziehung beendet wird? Ist es wahrscheinlicher, geghostet zu werden, wenn die Begegnung ihren Anfang auf einer Datingplattform gefunden hat?
Wie eine Beziehung beginnt, so wird sie später oft beendet. Findet die Begegnung ihren Anfang auf einer Datingplattform, ist es recht wahrscheinlich, geghostet zu werden oder abzutauchen. Denn der Geist ist ja schon aus der Flasche, wenn man damit anfängt, seine Liebessehnsüchte auf Internetplattformen zu parken.
„Wie man geht“ ist übrigens das überragende Thema auf Datingplattformen. Die Menschen suchen eine Anleitung für den Abschied. Ghosting scheint also nicht wirklich als Tool zu taugen. Die „Wisch-und-weg-Kultur“ verunsichert und macht unzufrieden.
Welche Folgen hat Ghosting für die Verlassenen?
Fast alle Ghosting-Opfer fühlen sich verletzt und tief verunsichert. Ihr Selbstbild, aber auch ihre Wahrnehmung ist getrübt. Haben sie sich alles nur eingebildet? Was hatte man sich erträumt? Was habe ich falsch gemacht? Bin ich nicht liebenswert?
Der Neurologe und Psychologe Michael Linden von der Charité spricht von einer „posttraumatischen Verbitterungsstörung“. Das ist eine reaktive psychische Störung infolge des Erlebens von Ungerechtigkeit, Herabwürdigung oder Vertrauensbruch, gekennzeichnet durch nagende Verbitterungsgefühle, Aggressionsfantasien, schlechte Stimmung, Rückzug aus Sozialbeziehungen und Einengung des Lebens. Die Geghosteten trauen sich nicht mehr in Beziehungen. Solche Erfahrungen prägen sich tief in unsere DNA ein.
Tina Soliman ist eine preisgekrönte Journalistin und Autorin. Sie arbeitet für die ARD (Die Story im Ersten und Panorama) und für das ZDF (37 Grad). 2011 veröffentlichte sie bei Klett-Cotta Funkstille. Wenn Menschen den Kontakt abbrechen. 2014 erschien Der Sturm vor der Stille. Warum Menschen den Kontakt abbrechen
Tina Solimans Buch Ghosting. Vom spurlosen Verschwinden des Menschen im digitalen Zeitalter ist bei Klett-Cotta erschienen (358 S., € 18,–)