Noch eine Geschichte!

Psychologie nach Zahlen: 6 Gründe warum wir Kindern – und nicht nur ihnen – häufiger vorlesen sollten

Die Illustration zeigt einen Mann, der seiner kleinen Tochter im Bett eine Geschichte vorliest
Für das Lesen gibt es viele Gründe. Einer davon: Es hilft uns, andere Menschen zu verstehen. © Till Hafenbrak

1 Es stärkt die Bindung

Vorlesen kräftigt das Band zwischen dem Vorlesenden – beispielsweise dem Vater oder der Mutter – und dem Kind. Schon dem Neugeborenen kann man das vorlesen, was man selbst gerade liest, denn das Wichtigste sind die Stimme und die körperliche Nähe. Feste Vorlesezeiten, etwa vor dem Schlafengehen, strukturieren den Tag, das Ritual der Gute-Nacht-Geschichte schafft Ruhe, Geborgenheit und einen geschützten Raum. Die zusammen gelesenen Bücher summieren sich zu einem Fundus, der eine Familie zeitlebens verbindet.

Kinder, die sich beim Vorlesen anschmiegen, spüren die Stimme der Mutter oder des Vaters leicht im eigenen Körper vibrieren. Wie wichtig die mütterliche Stimme ist, bewies eine kleine Studie, bei der Frühgeborene im Brutkasten 30 bis 45 Minuten lang Aufnahmen der vorlesenden Mutter hörten. Atmung und Herzschlag der Neugeborenen wurden sofort stabiler, das Gehirn aber angeregt. Auch ein Programm der US-Armee nutzt die Kraft der vertrauten Stimme. Im Ausland stationierte Militärangehörige lesen Geschichten ein, die ihre Kinder zu Hause hören, das mildert nachweislich die Entfremdung durch lange Trennungen. Diese Erkenntnis kann allen helfen, die – ob wegen Reise, Beruf, Scheidung oder Inhaftierung – nicht bei ihren Kindern sein können.

2 Es bereitet auf das Leben vor

In vorgelesenen Geschichten kann ein Kind potenziell angstvolle Momente gefahrlos durchspielen, es lernt Menschen, Lebenssituationen und Weltgegenden kennen, die nicht zu seinem Alltag gehören. Das weitet seinen Blick, vergrößert das emotionale Verständnis und stärkt die Empathie; Barack Obama sagte, Literatur habe ihm geholfen, die Menschen besser zu verstehen, die er ja letztlich vertreten sollte.

Eine Studie ergab, dass es Kindern, denen täglich oder mehrmals die Woche vorgelesen wird, später meist leichterfällt, selbst lesen zu lernen. Wem nicht vorgelesen wurde, der hatte hingegen häufig Probleme mit dem Erobern des Alphabets und empfand das Lesenlernen als mühsam und langatmig. Da Vorlesen dauert, steuert es die Impulse, lehrt Konzentration und schafft ein Gegengewicht zur Rastlosigkeit des Digitalen und zu den schnellen Schnitten des Fernsehens. Wenn ein solches Kind zur Schule kommt, hat es Zuhören und das Verstehen des Gehörten schon gelernt. Es ist durch die vielen Geschichten mit den Formen des Deutschen (oder der Sprache, in der ihm vorgelesen wurde) vertraut, hat einen großen aktiven und passiven Wortschatz erworben, kann die Wörter richtig aussprechen und weiß, mit schwierigen und seltenen Wörtern umzugehen.

3 Es lehrt Kulturtechniken

Kleine Kinder sehen, wie ein Buch „funktioniert“, wie man umblättert, wie die Geschichte von links nach rechts und über die Seiten fließt, wie Buchstaben aussehen, zu Wörtern und Sätzen werden. Natürlich kann es Bilderbücher allein betrachten, aber erst durch Vorlesen und Erklären – also durch Interaktion – verbinden sich Abbildungen, Farben und Texte zu einer sinnvollen Geschichte. Und Kinder lernen quasi nebenbei das Instrumentarium des Erzählens wie Dialoge, Ich-Erzähler, Alliterationen, Rückblicke, Spannungsbögen und vieles mehr.

Bilderbücher fordern ebenso zur Interpretation auf wie ein Museumsbesuch. Sie lehren die furchtlose Annäherung an unbekannte und rätselhafte Bilder, sind also ein erstes Tor zu Kunst und Illustration. Zudem regen gehörte Geschichten eigene Fantasiebilder an. Das Schmerzliche an Buchverfilmungen ist ja, dass deren Bilder den Geist kolonialisieren. Nachdem man einen Harry Potter-Film gesehen hat, haben alle Figuren, alle Orte, alle Geschehnisse ein Aussehen, gegen das es die eigenen Vorstellungen schwerhaben.

4 Es schlägt Brücken

Nicht nur Kindern sollte man vorlesen. Das Lesen und Lauschen kann eine kostbare Verbindung herstellen zu jenen, die nicht (mehr) leicht zu erreichen sind. Selbstverständlich liest man Blinden vor, weniger selbstverständlich ist das bei Kranken und Schwerkranken. Doch wenn das ewige Kreisen um Befunde und Perspektiven deprimiert und alle anderen Themen erschöpft sind, kann Vorlesen alle Beteiligten entlasten und bereichern. Es beendet (auch bei Betreuern von Komapatienten) die Stille. Eine Tochter berichtete, durch das Vorlesen historischer Bücher hätten sie und ihr sterbenskranker Vater den geschichtsbegeisterten Menschen wiedergefunden, der er war, bevor die Erkrankung alles überschattete. Übrigens las Albert Einstein seiner jahrelang bettlägerigen Schwester „jeden Abend aus den feinsten Büchern der alten und neuen Literatur vor“.

Bei der Stiftung Lesen engagieren sich Ehrenamtliche als Vorlesepaten für ältere Menschen (stiftunglesen.de/engagement/netzwerk-vorlesen). Diese mögen körperlich gebrechlich sein, aber viele sind geistig wach und unterfordert. Und selbst demente Menschen können aufblühen, wenn man ihnen kurze, leicht verständliche Geschichten vorliest.

5 Auch der Vorlesende profitiert

Wer seinen Kindern vorliest, kann zu den Büchern der eigenen Kindheit zurückkehren oder, falls man selbst nicht vorgelesen bekam, endlich die Klassiker kennenlernen. Wobei Vorlesen generell oft zu Büchern führt, an denen man sonst vorbeigegangen wäre. Eine Studentin las einem Blinden vor, der Camus’ Mythos von Sisyphos hören wollte, was ihr eine völlig neue Welt eröffnete. Sich gegenseitig vorzulesen hat etwas besonders Inniges und Verbindendes. Gibt es schon eine Studie, die beweist, dass einander vorlesende Paare glücklicher sind?

6 Es funktioniert selbst ohne Zuhörer

Lesen Sie sich selbst laut vor! Das drosselt das Lesetempo, und man versteht den Sinn des Gelesenen oft besser. Außerdem ist es ein altbewährter Trick aller, die schreiben und übersetzen, denn beim Lautlesen hört man, ob ein Text den richtigen Rhythmus und das richtige Tempo hat – kurz: ob er etwas taugt.

Literatur

Meghan Cox Gurdon: The enchanted hour. The miraculous power of reading aloud in the age of distraction. Harper, New York 2019

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2019: Werden, wer ich bin
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