Mein Raum, dein Raum

​Therapiestunde: Seit Maria mit ihrem Partner zusammen gezogen ist, gibt es Streit bis zu Handgreiflichkeiten. Was ist da los? ​

Die Illustration zeigt ein streitendes Paar in ihrem Heim. Es geht um die Frage, wie viel Rückzugsraum jedem zusteht.
Paartherapie: Wie viel Platz für mich selbst gestehst du mir zu? © Michel Streich

Das Paar, das ich an der Praxistür begrüße, ist von einem Kollegen an mich verwiesen worden. Die Frau ist bei ihm in Therapie. Solche Überweisungen haben den Vorzug, dass zumindest eine Hälfte des Paares therapieerfahren ist – und den Nachteil, dass der andere Teil solide Vorbehalte aufgebaut hat, wenn bisher aus dem Material der therapeutischen Gespräche Waffen für einen Machtkampf in der Beziehung geschmiedet wurden.

Maria ist knapp dreißig Jahre alt, sie hat wache Augen, die im Nu meinen Praxisraum erfassen. Sebastian ist etwas älter, ernst und vorsichtig, auf der Hut. Maria erzählt, wie sie sich auf einer Party bei ihrer besten Freundin kennengelernt haben. Sebastian sei ihr treu, das wisse sie, aber er sei so verschlossen, dass sie nie genau wisse, woran sie mit ihm sei. Und dann sei da noch die Sache mit der Gewalt.

Was ist passiert?

Gewalt in Beziehungen ist immer ein Alarmsignal, ohne Gewaltverzicht ist eigentlich keine Therapie möglich. So bitte ich, genau zu schildern, was passiert ist. „Er hat mich gepackt, so dass ich blaue Flecken an den Oberarmen hatte. Das geht doch gar nicht, das kann ich mir nicht bieten lassen.“ „Wie haben Sie die Szene erlebt?“, frage ich Sebastian. „Du musst schon die ganze Geschichte erzählen“, sagt er streng, „du musst auch von deiner Gewalt reden.“ „Ich wollte nur in dein Zimmer, weil ich mich nicht so wortlos abfertigen lasse, nur weil du behauptest, du willst jetzt schlafen.“ „Ich brauche meinen Schlaf. Ich kann am nächsten Tag sonst nicht arbeiten, ich habe einen anderen Job als du.“ „Es ist immer das Gleiche“, hält Maria dagegen, „deine Bedürfnisse, deine Arbeit, dein Schlaf, alles ist wichtiger als ich. Wie soll ich das nur aushalten?“

„Ich habe Maria gepackt und aus dem Zimmer geschoben. Es tut mir leid, dass ich so fest gedrückt habe, ich war schockiert, weil ich so etwas bisher noch nie gemacht habe. Aber Maria lässt einfach nicht locker. Wenn ich zehnmal sage, dass ich jetzt nicht weiterreden will, dann ist es, als ob ich nichts gesagt hätte. Ich denke eben, irgendwann später, wenn wir uns beruhigt haben, können wir das besser klären.“ „Wenn der Herr will, wird geklärt. Wenn ich will, wird geschubst!“, fasst Maria ihre Sicht der Dinge zusammen.

Ich nehme es Sebastian ab, dass er kein Schläger ist. Dann versuche ich, dem Paar zu erklären, dass ihre Krise mit dem Zusammenziehen verknüpft ist und dass zwei eigenwillige Erwachsene nur dann zusammenleben können, wenn sie die Fähigkeit entwickeln, ohne Verlustängste loszulassen.

„Die in die Ecke gedrängte Ratte beißt die Katze“

Marias vorheriger Freund hatte sie jahrelang betrogen. Die erlebte Untreue löst auch in der aktuellen Beziehung Ängste aus, die sie durch eine engmaschige Kontrolle der Beziehung zu Sebastian abwehrt. Sie will auf gar keinen Fall das Schicksal ihrer Mutter wiederholen. Aber je mehr Kenntnisse über sein Innenleben sie erzwingen will, desto weniger kann er sagen.

Als wir uns ferienbedingt nach sechs Wochen zum ersten Mal wieder zu dritt treffen, ist Maria ausgezogen. Ihre Beziehung sei jetzt wohl gescheitert, meint sie, die Paartherapie könne wohl nur noch dazu dienen, aufzuklären, warum sie versagt hätten und wie sie es vielleicht nächstes Mal besser machen könnten.

„Aber wir verstehen uns doch gut“, sagt Sebastian. „Wir streiten viel weniger, haben schönen Sex, du übernachtest bei mir und ich bei dir.“ Ich frage Maria, was sie zu ihrem Urteil „gescheitert“ brachte. Ihre Augen füllen sich mit Tränen. Sebastian steht auf und nimmt sie in die Arme. „Weil ich es einfach nicht bringe“, sagt Maria. „Erst hat mich mein erster Freund betrogen, und jetzt halte ich es mit Sebastian nicht aus und er nicht mit mir. Warum fragen Sie noch? Ich bin gescheitert.“ „Das finde ich nicht“, sage ich. „Vielleicht sind Sie zu früh zusammengezogen.“ „Ich wollte endlich etwas Festes, etwas Sicheres, ich möchte irgendwann Kinder. Damit bin ich gescheitert!“

„Ich glaube, Sie können gerade jetzt etwas ganz Wichtiges lernen, wenn Ihnen eine feste Beziehung so wichtig ist.“ Nun ist Maria neugierig. Sie putzt sich die Nase, Sebastian geht wieder zu seinem Sessel. „Kennen Sie das Sprichwort A cornered rat will bite the cat?“ „Die in die Ecke gedrängte Ratte beißt die Katze?“ „Ich habe die Aggressionen in Ihrer Beziehung so verstanden. Sie haben Ihren Partner durch Ihre Klärungswünsche in die Defensive gedrängt, bis er sich nur noch durch Kälte verteidigen konnte – und je mehr Sie drängten, desto kälter wurde er, und je kälter er wurde, desto mehr mussten sie ihn bedrängen. Wahrscheinlich haben Sie gar nicht bemerkt, wie viel Angst Sebastian verarbeiten muss, wenn Sie ihn so unter Druck setzen.“

Hast du Angst vor mir?

„Ich finde, er ist dann streng und übermächtig. Sebastian, stimmt das denn, hast du wirklich Angst vor mir?“ „Ich fühle mich als totaler Versager, wenn du mich so mit Vorwürfen attackierst. Ich halte das nicht aus, ich will dann nur noch meine Ruhe.“

„Vermutlich ist es auch umgekehrt so, dass Sie Maria als übermächtig erleben und nur deshalb aggressiv werden, weil sie zwischen Ihnen und dem Mauseloch steht.“

Sebastian lacht und sagt: „Und deshalb fühlen wir uns jetzt besser miteinander, weil jeder wieder seinen sicheren Bau hat, in den er sich zurückziehen kann?“

„Gut möglich“, sage ich. „Aber das ist doch kein Dauerzustand“, wendet Maria ein. „Wenn wir Kinder haben, können wir doch nicht in getrennten Wohnungen leben.“ „Die Rede vom Dauerzustand ist Teil des Problems, nicht Teil der Lösung“, sage ich. „Eine Beziehung lebt vom Loslassen und von der neuen Annäherung; so verliert sich allmählich die Angst, im Loslassen den Partner zu verlieren und im Festhalten von ihm aufgefressen zu werden.“

„Wie die Maus in der Ecke“, sagt Sebastian. „Ich finde, wir genießen jetzt erst einmal, was wir haben, und wenn Maria schwanger wird, sehen wir weiter.“

Wolfgang Schmidbauer arbeitet als Psychoanalytiker, Paar- und Familientherapeut und Autor in München. Sein Buch Die Geheimnisse der Kränkung und das Rätsel des Narzissmus ist bei Klett-Cotta erschienen (2018)

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 11/2018: Manipulation durchschauen
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