Der Skandal um Harvey Weinstein erregte 2017 großes Aufsehen – die #MeToo-Bewegung entwickelte sich. Weltweit waren Frauen ermutigt offenzulegen, was ihnen passiert war. Vier Psychologinnen untersuchen in einem Forschungsüberblick, wie es sein könne, dass Belästigungen in Organisationen und Unternehmen oft so lange fortbestehen und warum die betroffenen Frauen es so schwer haben, Unterstützung zu bekommen. Im Fall Weinstein waren es 30 Jahre, in denen der Mann machen konnte, was er wollte, obwohl viele um ihn herum Bescheid wussten. Über den Hintergrund gebe es bislang nur eine einzige empirische Studie, die tieferen Einblick vermittle, schreiben die Forscherinnen: Im Jahr 2019 wurden 37 Angestellte aus US-amerikanischen Organisationen befragt, in denen sexuelle Belästigungen seit langem vorkamen. Ergebnis: Es seien die „schweigenden Netzwerke“, die dafür sorgten, dass sexuelle Belästigung über Jahrzehnte fortbestehe.
Wegen des Fehlens empirischer Studien waren die Psychologinnen auf theoretische Analysen über die Dynamiken von Netzwerken und Erfahrungsberichte über sexuelle Belästigungen in Unternehmen und Organisationen angewiesen. Wie funktioniert so ein Netzwerk? Offenbar hat es ein bestimmtes Profil. Die zentrale Figur in solchen Schweige-Gemeinschaften sei ein Täter, der häufig im Mittelpunkt stehe, erklärten die Forscherinnen. Diese Person sei besonders gut vernetzt: Sie habe nicht nur sehr viele Kontakte, sondern diese seien auch eng. Meist verfügen sie auch über Verbindungen zu weiteren Netzwerken, die sich untereinander nicht kennen – zwischen denen aber die im Mittelpunkt stehenden Männer Kontakte herstellen, also eine „Brücke bilden“ könnten. Wichtig sei darüber hinaus: Der Täter mit seiner zentralen Rolle im Netzwerk sei häufig in der Lage, den weniger gut vernetzten Mitgliedern Zugang zu wichtigen Ressourcen oder zu wichtigen Personen zu verschaffen. Im Gegenzug verlangten jedoch die Täter strikte Loyalität bis hin zur Gefügigkeit.
Allgemein gehörten dem Netzwerk (nicht alle) Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an, die in der Organisation arbeiteten, aber auch Personen darüber hinaus. Das Schweigen sei zentral. Dazu gehöre auch, dass andere am Reden gehindert oder entmutigt würden, etwas zu sagen. Dieses Schweigen, sei nicht den Individuen zuzuschreiben, sondern entstehe innerhalb der Netzwerke, über soziales Lernen und sozialen Einfluss, betonen die Psychologinnen. Schließlich herrschten bestimmte Überzeugungen vor, so glaubten viele Mitglieder an Mythen hinsichtlich sexueller Belästigung und überhöhten traditionelle Vorstellungen von Männlichkeit. Dies mache es besonders schwierig, weil dann, wenn ein Fall bekannt werde, die Motive der betroffenen Person in Zweifel gezogen werden.
Was könnten Unternehmen und Organisationen tun? Ein Weg bestehe darin, das Konglomerat an Überzeugungen zu korrigieren, das zum Schweigen motiviere und dazu führe, dass Belästigungen vertuscht und gerechtfertigt würden. So könnten Führungskräfte in Schulungen explizit auf überkommene Vorstellungen von Männlichkeit aufmerksam gemacht werden. Es lasse sich verdeutlichen, worum es bei sexuellen Übergriffen und Abwertungen wirklich gehe.
Eine weitere Möglichkeit bestehe darin, interne Reporting-Prozesse im Fall von Belästigungen komplett zu umgehen, denn viele an den Reporting-Prozessen Beteiligte könnten Mitglieder der beschriebenen Netzwerke sein. Täter seien häufig angesehen, erfolgreich und für andere Netzwerkmitglieder wichtig und hilfreich. Daher sollten Organisationen im Zweifelsfall auf externe professionelle Unterstützung zurückgreifen, die unabhängig von den internen Netzwerken arbeiten müsse.
M. Sandy Hershcovis u. a.: See no evil, hear no evil, speak no evil: Theorizing network silence around sexual harassment. Journal of Applied Psychology, 2021. DOI: 1ß.1037/apl0000861