Introvertiert, still, schüchtern, bescheiden, zurückhaltend, feinfühlig, sensibel – Selbstbeschreibungen dieser Art sollte man in seiner Bewerbung wohl eher nicht erwähnen. Oder? „Ganz bestimmt nicht“, stimmt Martin Wehrle zu. „Wenn ich den Eindruck erwecke, dass ich sehr zurückhaltend bin, dann kommt das Gefühl auf: Der Kandidat ist dem Alltagsgeschäft nicht gewachsen. Er kann mit den Kunden keine guten Gespräche führen. Man darf es nicht ins Schaufenster stellen, dass man übersensibel ist oder gar schüchtern.“
Wie können Introvertierte dann im Vorstellungsgespräch optimale Werbung in eigener Sache machen? Es falle introvertierten Menschen ungeheuer schwer, positiv über sich zu reden, so Wehrle. Zu sagen: „Ich habe das Projekt mit ausgezeichneter Bewertung abgeschlossen“, komme ihnen fast nicht über die Lippen. „Ich bitte Introvertierte also, positive Zitate von anderen über sich selbst zu suchen. Wenn der Chef zum Beispiel gesagt hat: ‚Dieses Projekt ist toll gelaufen, das war eines der besten der vergangenen fünf Jahre.‘ Dann bitte ich die Introvertierten, dass sie das aufschreiben und im Vorstellungsgespräch ein entsprechendes Zitat bringen. Es fühlt sich für Introvertierte anders an, wenn sie andere über sich urteilen lassen, als wenn sie etwas über sich selbst behaupten“, sagt Wehrle. Oder er empfiehlt ihnen, einfach zu erzählen, wie sie etwas erfolgreich organisiert haben. Indem sie das glaubwürdig vorbringen, haben sie die gleiche Botschaft platziert, ohne sich ausdrücklich selbst gelobt zu haben.
Introvertierte gingen schlicht anders an ihren Job heran als Extravertierte. Extravertierte reagierten schneller, blieben aber meist an der Oberfläche. „Der Introvertierte, das zeigen wissenschaftliche Studien, dringt lieber in die Tiefe, bohrt die dicken Bretter und bleibt nachhaltig an einer Sache dran. Aber nicht selten gibt es Teams, in denen die Introvertierten die Hauptarbeit machen – und die Extravertierten schreiben sich den Erfolg dann auf die Fahnen.“
Man sollte Intro- und Extravertierte aber nicht gegeneinander ausspielen, betont Wehrle. Doch er kritisiert, dass es meist die Introvertierten seien, die sich für ihr Temperament rechtfertigen müssten. Die Rednerkurse besuchen sollten, um ihre Rhetorik zu verbessern, die lernen sollten, aus sich herauszukommen. Er fragt sich: „Brauchen wir wirklich mehr Rednerkurse? Oder brauchen wir nicht vielmehr Zuhörerkurse für die Extravertierten? Und kann es sein, dass unsere Gesellschaft es akzeptiert, dass die Lauten immer die Vorbilder und die Leisen immer die Nachhilfeschüler sind? Darum drehe ich den Spieß um, um den Introvertierten zu zeigen: Dein Temperament ist nicht schlechter als das andere.“
Das vollständige Interview mit Martin Wehrle finden Sie in unserem aktuellen Themenheft der Reihe Psychologie Heute compact: Still und stark: Wie sich sensible und introvertierte Menschen in einer lauten Welt behaupten