Schritt für Schritt zum guten Gefühl

Ich koche vor Wut oder möchte hüpfen vor Freude, aber sollte längst schlafen. Diese 8 Übungen zur Emotionsregulation können helfen, Gefühle zu lenken:

Die Illustration zeigt zwei Personen, die aus Köpfen bestehen, die sich gegenüber stehen und die Hände übereinander halten
Die eigenen Emotionen dem Gegenüber kundzugeben, scheint nicht immer der goldene Weg zu sein. © Hanna Barczyk für Psychologie Heute

Gefühle verstehen

Was passiert hier?

Die Autotür fällt zu. Mit dem Start des Motors beginnt das Radio zu spielen. Wir blicken in den Spiegel und sehen, wie sich unsere Augen mit Tränen füllen. Der Tag war lang, der Streit mit dem Kollegen unangenehm. Und wir? Wir fühlen offenbar etwas, das uns zum Weinen bringt. Nur was eigentlich?

Den eigenen Gefühlen auf den Grund zu gehen, das ist manchmal gar nicht so leicht. Ist es Überforderung? Oder Wut? Vielleicht fühlen wir auch nur, dass irgendetwas gerade gar nicht…

Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen

so leicht. Ist es Überforderung? Oder Wut? Vielleicht fühlen wir auch nur, dass irgendetwas gerade gar nicht stimmt. Spüren, dass uns etwas auf den Magen schlägt.

Was genau spüre ich gerade?

Kinder sprechen oft von Bauchschmerzen, wenn sie eigentlich emotionalen Stress fühlen. Das liegt daran, dass ihnen noch die Worte fehlen, sie nicht über eine differenzierte Sprache für ihre Emotionen verfügen. Die lernen sie erst mit der Zeit – und auch wir Erwachsenen können uns weiter in ihr verbessern. Die Sprache wird uns helfen.

Eine differenzierte Sprache für unsere verschiedenen Gefühle zu finden ist ein wichtiges Instrument, um mit dem Empfinden besser umzugehen. Es ist das, was Forscherin Lisa Feldman Barrett als emotionale Granularität bezeichnet: Je spezifischer und flexibler wir Gefühle und körperliche Empfindungen wahrnehmen und beschreiben können, desto besser sind wir in der Lage, unsere Emotionen zu regulieren. Und genau diese emotionale Granularität lässt sich kultivieren.

Gunnar Eismann ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und leitender Oberarzt an der Hamburger ­Asklepiosklinik Nord–Ochsenzoll. Für den Einsatz in der Therapie und Beratung, aber auch für die Selbsterfahrung hat er das Therapiekartenset Emotionsregulation entwickelt. Eismann empfiehlt, als erste Übung eine Emotionsliste anzulegen (siehe Kasten darunter).

Übung 1: Emotionsliste

Welche Emotionen kennen Sie?

Notieren Sie alle angenehmen, unangenehmen und gemischten Gefühle, die Sie kennen. Wie fühlt sich die jeweilige Emotion an? Welche körperlichen Symptome gehen damit einher? Schreiben Sie auch die Situation auf, in der die Emotion aufgetreten ist, denn Emotionen fühlen sich nicht in jeder Situation gleich an, egal ob wir von positiven oder negativen Gefühlen ausgehen. Es ist immer eine Frage des Kontextes. So kann es durchaus genussvoll sein, einen gruseligen Film zu schauen, oder erleichternd, die Tränen der Trauer fließen zu lassen.

Fragen Sie sich beim Schreiben auch: Was unterscheidet Ärger von Angst? Was Neid von Missgunst? Wie fühlt sich Freude an, wie Heiterkeit und wie Belustigung? Unterstreichen Sie die Emotionen, die Sie oft empfinden.

Eine solche Liste lässt sich immer wieder erweitern und auch um Neuschöpfungen ergänzen, die unsere Gefühle noch präziser beschreiben. Forscherin Feldman Barrett erfindet eigene Gefühlswörter und erweitert so die Granularität ihres eigenen Gefühlskosmos. In ihrer Familie sprechen sie zum Beispiel von der emotional flu, also der Gefühlsgrippe, wenn sie ihren Mitmenschen sagen wollen, dass sie gerade besonders viel emotionale Fürsorge brauchen. Auch andere Sprachen können Ideen für neue Gefühlsbeschreibungen liefern. Age-otori zum Beispiel beschreibt im Japanischen das Gefühl, nach einem Friseurbesuch schlechter auszusehen als vorher.

Wo spüre ich meine Emotion?

Emotionen und Empfindungen des Körpers sind eng miteinander verbunden. Diese Verbindung findet sich auch in der Sprache wieder: Etwas sitzt uns im Nacken oder brennt auf den Nägeln, wir haben Schmetterlinge im Bauch oder Hummeln im Hintern. Für die emotionale Granularität ist es daher hilfreich, die körperlichen Symptome eines Gefühls zu kennen, sie zuordnen und unterscheiden zu können. Gunnar Eismann hat gemeinsam mit Claas-Hinrich Lammers, ebenfalls Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie ärztlicher Direktor der gleichen Klinik in Hamburg, das Buch Therapie-Tools Emotionsregulation verfasst. Darin enthalten ist auch die Übung 2:

Übung 2: Die Körperkarte

Nehmen Sie sich ein Blatt Papier und zeichnen Sie einen menschlichen Körper. Emotionen gehen in der Regel mit verschiedenen Empfindungen und Symptomen an unterschiedlichen Stellen des Körpers einher. Denken Sie an Emotionen, die Sie als proble-matisch empfinden: Welche körperlichen Reaktionen darauf kennen Sie von sich? Über-legen Sie sich Symbole für die Symptome, die häufiger auftreten. Vielleicht ein klopfendes Herz für erhöhten Puls, einen Tropfen fürs Schwitzen, einen Blitz für Schmerzen.

Dann zeichnen Sie die Symbole an jene Stellen des Körpers, an denen sie diese Empfindungen beim Auftreten spüren. Schreiben Sie den Namen der Empfindung mit Pfeilen neben das Symbol.

So wird jede „Problem-Emotion“ in einer Art Landkarte verzeichnet. Vielleicht steigt bei Scham die Hitze ins Gesicht. Die Wut fühlen Sie eher im Bauch. Weil es in der akuten Situation manchmal gar nicht so leicht ist, die Gefühle auseinanderzuhalten, kann die Karte dabei helfen herauszufinden, welche Emotion Sie gerade wirklich gefühlt haben.

Gefühle regulieren

Was brauche ich gerade?

Körper und Psyche stehen in enger Verbindung zueinander. Das bedeutet auch: Ist unser Körper nicht im Gleichgewicht, hat das Auswirkungen auf unsere Gefühle. Das zeigt zum Beispiel eine Metaanalyse aus dem Jahr 2023 von einem Team um Cara Palmer, Direktorin eines Labors für Schlafforschung und sozioemotionale Entwicklung an der Montana State University. Fehlender Schlaf führt etwa dazu, dass wir positive Gefühle weniger stark wahrnehmen und die Angstsymptome steigen. Wir kennen es aus dem Alltag: Haben wir in der Nacht kaum geschlafen, wird es schlechter bestellt sein um unsere Geduld in der Teambesprechung am nächsten Morgen. Auch die Kritik des Chefs wird uns an solchen Tagen vermutlich stärker treffen. Der grundlegendste Schritt, um gut mit seinen Gefühlen umzugehen, sei daher, das „Körperbudget“ in Schuss zu halten – so formuliert es Forscherin Feldman Barrett in ihrem Buch Wie Gefühle entstehen.

Die Forscherin vergleicht das Körperbudget mit einem Kontostand. Auf dieses Konto kann Energie eingezahlt werden, zum Beispiel durch Schlaf oder Bewegung, und sie kann abgezogen werden, etwa durch Anstrengung. Über unsere Gefühle regulieren wir die Eingänge auf diesem Konto: Positive Emotionen signalisieren, dass der Körper ausgeglichen ist, während negative Emotionen oft Warnungen sind, dass der Energiehaushalt gestört ist, zum Beispiel durch Überforderung oder Erschöpfung.

Darum gehört in die Werkzeugkiste zur besseren Emotionsregulation unbedingt auch, das körperliche Wohlbefinden zu steigern. Sport, ausreichend Schlaf, gesunde Ernährung und Berührungen eines Menschen – es ist eine Binsenweisheit, aber all das wird unsere Geduldsfäden und Nervenkostüme auf lange Sicht stärken.

Wie finde ich schnelle Hilfe für den Moment?

Emotionen und Stress stehen in Wechselwirkung zueinander. Belastende Emotionen lösen oft Stress aus. Die Aktivierung der Stressachsen (vor allem der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse, kurz HPA-Achse, und des sympathischen Nervensystems) kann dazu beitragen, dass man negativ erlebte Emotionen intensiver wahrnimmt und dass sie länger anhalten. Aus einem anfänglichen Ärger wird Zorn, Angst könnte sich zur Panik steigern.

Und je größer die erlebte Anspannung ist, desto weniger sind wir wir in der Lage, unsere Gefühle zu steuern. Denn unter großem Druck leiden unsere kognitiven Fähigkeiten, das Denkzentrum ist gewissermaßen blockiert. Die Folge: Wir handeln impulsiv. Das nimmt meist kein gutes Ende, denn in emotionalen Ausnahmezuständen neigen wir zu dysfunktionaleren Verhaltensweisen wie Wutausbrüchen oder einem selbstverletzenden Verhalten. Das wiederum erhöht die Wahrscheinlichkeit, weitere negative Emotionen zu empfinden, zum Beispiel Scham. Ein Teufelskreis entsteht.

Doch so schön es auch wäre: Stress lässt sich nicht immer vermeiden. Die Präsentation versagt vor aller Augen, die Chefin verlangt weitere Überstunden, der demenzerkrankte Vater braucht dringend Pflege und Rechnungen müssen auch dann bezahlt werden, wenn das Konto längst leer ist – der Alltag ist voller Situationen, die uns belasten. Und manche davon stärker als andere.

Welche Technik beim Umgang mit den Gefühlen hilft, hängt auch davon ab, wie intensiv wir die Anspannung gerade spüren. Um langfristig Emotionen gut zu regulieren, können wir lernen, sie je nach Stärke einem grünen, einem orangefarbenen und einem roten Bereich zuzuteilen. In der dialektisch-behavioralen Therapie zum Beispiel wird für die subjektiv empfundene Anspannung häufig eine Skalierung über Prozente genutzt, um ein besseres Verständnis für die wahrgenommene Intensität zu entwickeln.

Wie entfliehe ich dem roten Bereich?

Befinden wir uns im grünen Bereich, also bei einem Stresslevel zwischen 1 und 30 Prozent, empfinden wir keine oder nur wenig Anspannung. Unsere Gedanken sind klar, unser Verhalten routiniert. Der orangefarbene Bereich von 31 bis 70 Prozent steht für mittlere Anspannung. Wir spüren eine Belastung, sind aber in der Lage, nach einer Lösung zu suchen, und haben Kontrolle über unser Verhalten. In beiden Bereichen bleiben wir in Kontakt mit unseren Emotionen und können üben, unsere Gedanken und Gefühle durch bestimmte Techniken wie Akzeptanz oder kognitive Neubewertung zu steuern.

Ab 71 Prozent sind wir dann jedoch im höchsten Anspannungsniveau. Der Herzschlag erhöht sich, die Atmung wird schneller, die Muskeln spannen sich an. Wir können keinen klaren Gedanken mehr fassen, haben vielleicht sogar einen Blackout. Was auch immer wir über beruhigende Atmung oder gedankliche Neubewertung wissen – in diesem Moment werden wir das vermutlich nicht anwenden können. Statt eine akzeptierende Grundhaltung einzunehmen, befinden wir uns im „Kampf oder Flucht“-Modus.

Um wieder klar denken zu können, müssen wir schnellstmöglich raus aus dem roten Bereich. Anders als im grünen oder orangefarbenen sollten wir jetzt nicht mehr in Kontakt mit unserer Emotion sein, sondern sie vermeiden. Das kann uns mit gezielten Ablenkungstechniken gelingen, die zum Beispiel unsere Sinne sehr stark reizen. Solche Skills werden auch Personen empfohlen, die besonders starke Gefühle empfinden, zum Beispiel Menschen mit Borderlineerkrankungen. Auch Kinder und Jugendliche können von diesen Techniken profitieren.

Übung 3: Ablenkung – wenn uns Emotionen überwältigen

Eine Möglichkeit ist die gedankliche Ablenkung: Befinden Sie sich in einer starken Stresssituation, können Turnübungen fürs Gehirn, sogenannte Hirnflickflacks helfen.

  • Versuchen Sie, Wörter rückwärts zu buchstabieren, Knobelaufgaben zu lösen oder in Siebenerschritten von 100 herunter­zurechnen

  • Wenn Sie mehr Zeit haben, kann es helfen, Musik zu hören oder ein Buch zu lesen, um auf andere Gedanken zu kommen. Durch diese Ablenkung schieben Sie die als problematisch empfundene Emotion so weit weg, dass sie weniger belastend wirken wird

  • Sie können in Stresssituationen auch gezielt Sinnesreize setzen, die harmlosen Schmerz auslösen, und sich so ablenken. Beispiele: mit einem Gummiband am Handgelenk schnipsen oder sich mit den Fingern in die Wange kneifen

  • Auch durch körperliche Aktivität wie Kniebeugen oder Liegestütze verändern Sie den Aufmerksamkeitsfokus und bringen sich schnell aus dem roten Anspannungsbereich.

Zugegeben: In einer stressigen Situation im Job mag es seltsam anmuten, kurzfristig Turnübungen auf dem Fußboden zu absolvieren. Aber auch hier hilft schon ein längerer Blick aus dem Fenster, da er die Sinne anspricht und damit das Gehirn vom Stressgeschehen ablenkt. Durch diese gezielte Aufmerksamkeitsumlenkung werden zum Beispiel die Amygdala und das sympathische Nervensystem weniger stark aktiviert, was wiederum unsere emotionale und körperliche Reaktion abschwächen kann.

Befinden wir uns noch im grünen oder orangefarbenen Bereich, braucht es vielleicht nur einen kurzen Moment des Ausatmens, um die innere Anspannung fürs Erste zu lösen. Auch die verlangsamte Atmung verändert die Aktivitäten des autonomen und zentralen Nervensystems. Diese Atmung regt unter anderem jene Strukturen im Gehirn an, die mit gesteigertem Wohlbefinden, Entspannung und Wachsamkeit verbunden sind. Das Ausatmen aktiviert das parasympathische Nervensystem, das eine beruhigende Wirkung hat und das Herz langsamer schlagen lässt.

Übung 4: Atmen – einmal kurz beruhigen, bitte

Wir können das beruhigende Atmen üben, zum Beispiel die tiefe Bauchatmung, wie sie Eismann und Lammers empfehlen:

Schritt 1: Setzen Sie sich dazu auf einen Stuhl oder bleiben Sie aufrecht stehen

Schritt 2: Spüren Sie die Füße fest auf dem Boden, den Kopf halten Sie gerade, die Schultern hängen entspannt nach unten

Schritt 3: Schließen Sie die Augen

Schritt 4: Nun legen Sie eine Hand auf die Brust, die andere auf den Bauch. Atmen Sie tief in den Bauch hinein. Sie spüren mit der Hand, wie sich Ihr Bauch mit jedem Atemzug hebt und senkt

Schritt 5: Wiederholen Sie diese Übung für ein paar Atemzüge.

Auch Kinder können über die Atmung das eigene Stress­empfinden steuern. Dörte Grasmann, Anke Felber und Felix Euler haben das Buch Therapie-Tools Emotionsregulation bei Kindern und Jugendlichen verfasst und die Übung für diese etwas abgewandelt:

Übung 5: Für Kinder: die Ballonatmung

Mache es dir auf einem Stuhl bequem. Schließe die Augen oder senke ein wenig deinen Blick, je nachdem was dir lieber ist. Lege eine Hand auf deinen Bauch. Stelle dir vor, dass du einen kleinen Luftballon in deinem Bauch hast. Wenn du einatmest, füllt er sich mit Luft und wird größer. Wenn du ausatmest, fließt die Luft wieder aus ihm heraus und der Ballon wird wieder kleiner.

Um uns langfristig auf stressige Situationen besser vorzubereiten, sollten wir in einem ruhigen Moment überlegen: Welche körperlichen Symptome, welche Gedanken und Gefühle kennen Sie von sich in den jeweiligen Anspannungsbereichen? Mit diesen Informationen können wir eine Art Frühwarnsystem für uns bauen, um künftig gar nicht erst die Grenze in den roten Bereich zu überschreiten.

Gefühle annehmen

Es ist okay!

Um langfristig gut mit unseren Gefühlen umzugehen, werden Übungen zum Abbau von Anspannung nicht ausreichen. Wir müssen lernen, uns auch den unangenehmen Gefühlen zu stellen und einen Umgang mit ihnen zu finden. Ein Weg dahin führt über die Achtsamkeit.

Sie steht für eine offene, unvoreingenommene und wertfreie Grundhaltung, die die Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt lenkt. Die äußere Achtsamkeit richtet sich dabei auf alles, was wir durch unsere Sinne wahrnehmen können. Laut Eismann kann die äußere Achtsamkeit daher besonders gut zur Stressreduktion eingesetzt werden, wenn das Anspannungslevel im roten Bereich ist. Darum hilft es, in hochstressigen Situationen aus dem Fenster zu schauen, den Sehsinn also zu fordern, und bewusst wahrzunehmen und zu beschreiben: „Ich sehe einen Baum mit grünen Blättern, ich sehe weiße Wolken am Himmel…“

Die innere Achtsamkeit lenkt die Wahrnehmung auf unsere Gefühle und körperlichen Empfindungen. Nach Eismann ist sie dann hilfreich, wenn das Anspannungslevel bei höchstens 70 Prozent oder darunter liegt, weil wir nur dann in der Lage sind, eine achtsame Grundhaltung einzunehmen. Durch das wertfreie Wahrnehmen innerer Zustände wechseln wir die Rollen: Statt uns überwältigen zu lassen, treten wir einen Schritt zurück und werden zum neutralen Beobachter unseres Selbst. Das gibt uns Raum und verschafft uns Zeit.

Schlägt uns der Teenager die Tür vor der Nase zu, werten wir das vielleicht als Ablehnung. Es kann uns wütend machen. Aus der Wut heraus fangen wir an, ihn anzuschreien – was sehr wahrscheinlich nicht zu einer Verbesserung der Situation führen wird.

Aus der distanzierteren Beobachterposition heraus fällt es deutlich leichter, eigentlich unangenehme Gefühle zuzulassen, zu betrachten und zu verstehen. Wir nehmen den Teenager wahr, das Zuschlagen der Tür, auch die in uns aufsteigende Wut. Verzichten wir jedoch auf die Wertung, hemmen wir den Handlungsimpuls. Zum Einüben einer achtsamen Grundhaltung empfiehlt Eismann, sich mit den Grundprinzipien der Achtsamkeit vertraut zu machen.

Übung 6: Achtsamkeit

Setzen Sie sich auf einen Stuhl. Nehmen Sie eine bequeme Haltung ein, die Sie für die kommenden fünf Minuten gut aushalten können. Konzentrieren Sie sich für die nächsten Minuten darauf, welche Empfindungen das Sitzen auf diesem Stuhl bei Ihnen auslöst:

Wahrnehmen: Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf das, was Sie in diesem Moment spüren. Wie fühlt sich die Lehne, wie genau die Sitzfläche des Stuhls an? Was spüren Ihre Finger? Was Ihr Gesicht?

Akzeptieren: Ob angenehm oder unangenehm – akzeptieren Sie alle Empfindungen, die Sie wahrnehmen. Verändern Sie nicht Ihre Sitzposition. Bleiben Sie weiter auf dem Stuhl sitzen

Beschreiben: Nehmen Sie die Empfindungen wahr, ohne sie zu bewerten. Beschreiben Sie, was Sie fühlen, zum Bespiel: „Ich spüre ein Kribbeln in der Nase

Teilnehmen: Bleiben Sie im Hier und Jetzt, driften Sie nicht in die Vergangenheit, nicht in die Zukunft ab. Sollten Ihre Gedanken abschweifen, bewerten Sie das nicht. Akzeptieren Sie das Abschweifen und Zurückkehren als natürlichen Kreislauf der Achtsamkeit.

Achtsamkeitsübungen wie diese lassen sich an allen erdenklichen Orten und mit verschiedener Dauer ausführen. Sie helfen uns, nicht nur Stress abzubauen, sie sind auch eine Einladung, schöne Momente und angenehme Emotionen noch intensiver, noch genussvoller zu erleben. Sie können also gute Gefühle verstärken. Wichtig ist jedoch zu wissen, dass uns in solchen Momenten manchmal auch jene unangenehmen Gefühle, vor denen wir so gerne fliehen würden, präsenter erscheinen.

Zeit zum Verstehen verschaffen

Ein weiterer Schritt ist die Akzeptanz unserer Gefühle, der angenehmen, aber auch der unangenehmen. Akzeptanz bedeutet nicht, belastende Emotionen gut zu finden. Es bedeutet, sie stehenzulassen, auszuhalten und sich weitere Zeit zum Verstehen zu verschaffen. Denn Gefühle liefern uns Informationen über unsere erfüllten und unerfüllten Bedürfnisse. Darum ist es hilfreich, sich immer mal wieder selbst zu fragen (während oder nach der Übung): Was brauche ich wirklich, wenn ich mich so oder so fühle?

Übung 7: Akzeptanz

Damit wir unangenehme Gefühle weder vermeiden noch unterdrücken, können wir uns in Emotionsakzeptanz mit folgender Übung von Eismann und Lammers trainieren:

Schritt 1: Benennen Sie die Emotion, ohne diese zu bewerten (zum Beispiel: „Ich fühle mich traurig“)

Schritt 2: Benennen Sie den Grund für die Emotion („Ich fühle mich traurig, weil ich kritisiert wurde“)

Schritt 3: Akzeptieren Sie die Emotion („Weil ich kritisiert wurde, fühle ich mich traurig, und das ist okay“)

Schritt 4: Wiederholen Sie diesen Akzeptanzsatz bei gleichzeitiger Durchführung einer tiefen Bauchatmung.

Mithilfe der tiefen Bauchatmung bei gleich­zeitiger Wiederholung eines Akzeptanzsatzes schwächt sich die Emotion allmählich ab.

Gefühle verändern

Die Schmetterlinge in Formation bringen!

Durch einen TED Talk hat Lisa Feldman Barrett ihre Forschungsergebnisse einem Millionenpublikum bekanntgemacht. Als sie an einem Abend im Dezember 2017 die Bühne betrat, spürte die Wissenschaftlerin das, was die meisten Menschen in solchen Situationen fühlen: Herzklopfen, Schweiß, Blut, das immer stärker durch die Adern pulsiert. So erzählt sie es im Pod­cast von Stanford-Professor Andrew Huberman. Hätte sie die vergangenen 30 Jahre ihrer Arbeit nicht in die Erforschung von Emotionen gesteckt, hätte sie die Signale ihres Körpers vermutlich so interpretiert, wie die meisten Menschen es täten: als Angst. Doch weil sie um die Kraft der Gedanken weiß, wählte sie einen anderen Weg, wie wir noch sehen werden.

Tatsächlich stehen Gefühle auch mit Gedanken in Wechselwirkung zueinander. In unserem Gehirn arbeiten die limbischen Regionen, die kognitiven Zentren und die Gedächtnisareale eng zusammen. Diese Dynamik ermöglicht uns, Emotionen zu regulieren und gleichzeitig von ihnen beeinflusst zu werden. Positive Emotionen zum Beispiel lassen Ereignisse und andere Menschen oft in einem günstigeren Licht erscheinen. Nach einem netten Mittagessen mit den Kollegen neigen wir dazu, selbst negative Situationen wie eine misslungene Präsentation weniger kritisch zu bewerten.

Im Gegenzug können negative Gedanken, oft Denkfehler genannt, unser Erleben ungünstig beeinflussen: Gehen wir vom Schlimmsten aus, verstärkt das zum Beispiel Zukunftsängste.

Unser Denken wirkt also darauf ein, was wir fühlen und wie wir die Realität wahrnehmen. Was auch bedeutet, dass wir fähig sind, unsere Gedanken bewusst zu nutzen, um zu steuern, was wir fühlen. Wir müssen das nur trainieren.

Übung 8: Veränderung von Gedanken

Wie hilfreich der bewusste Umgang mit Sprache und Denken ist, zeigt die folgende Übung von Gunnar Eismann:

1. Lesen Sie diesen Satz mehrmals durch:

„Ich müsste meine Post öffnen, aber ich habe Angst vor schlechten Nachrichten.“ Solche Ja-aber-Sätze drücken inneren Widerstand aus, denn in unserem Kopf löschen wir den ersten Satzteil. Hängen bleibt in diesem Fall die Angst vor schlechten Nachrichten und der Widerstand, die Post zu öffnen.

2. Verbinden Sie die beiden Satzteile nun mit dem Wort „und“:

„Ich müsste meine Post öffnen und ich habe Angst vor schlechten Nachrichten.“ Hier hat der Handlungswiderstand schon etwas abgenommen, das Wort „und“ ordnet beiden Satzteilen die gleiche Gewichtung zu.

3. Drehen Sie nun die Satzteile um und formulieren Sie so, als ob die Handlung schon Wirklichkeit wäre:

„Ich habe Angst vor schlechten Nachrichten und öffne die Post.“ Daraus entsteht ein Motivationssatz, der etwas Wichtiges zum Ausdruck bringt:

  1. Die Angst erfährt Akzeptanz,

  2. steht dem Handeln aber nicht mehr im Weg.

„Sagen Sie Ihren Motivationssatz mehrmals vor sich hin, um sich zu einer bestimmten Handlung zu motivieren. Betonen Sie dabei das Wort und.“

Aus Angst wird Entschlossenheit!

Kurz vor ihrem Auftritt hörte Feldman Barrett noch einmal in sich hinein. „Das ist keine Angst, das ist Entschlossenheit!“, sprach sie zu sich selbst. Sie spürte das Pulsieren in den Fingern, das Kribbeln im Bauch. Dann folgte der Satz, den sie vom Karatelehrer ihrer Tochter übernommen hat: „Bring deine Schmetterlinge in Formation!“ Kurz darauf betrat Feldman Barrett die Bühne und hielt in aller Ruhe den Vortrag, den über sieben Millionen Menschen weltweit sehen würden.

Emotionsbezogene Neubewertung nennt sich die Technik, die sich die Forscherin hier zu eigen gemacht hat. Sie empfing die körperlichen Signale, im Kopf aber änderte sie deren Bedeutung. Aus Angst wurde Entschlossenheit, die Schmetterlinge im Bauch gaben ihr Antrieb. Emotionale Granularität ist auch deshalb so machtvoll, weil die präziseren Empfindungen dabei helfen, neue Kategorien für das Erleben zu schaffen.

Es geht also gar nicht darum, in herausfordernden Situationen Schmetterlinge im Bauch loswerden zu wollen – ein Kampf, den wir voraussichtlich ohnehin verlieren würden. Sondern es geht darum, ihnen eine neue Bedeutung zu geben. Schließlich wollen sie uns etwas sagen. Und das muss nicht unbedingt sein: „Hab Angst. Lauf weg!“, es könnte auch sein: „Mach dich bereit. Es wird aufregend!“

Wollen Sie mehr zum Thema erfahren? Dann lesen Sie auch über die neuen Erkenntnisse der Emotionsregulationsforschung in Ich entscheide, was ich fühle.

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen? Wir freuen uns über Ihr Feedback!

Haben Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Beitrag oder möchten Sie uns eine allgemeine Rückmeldung zu unserem Magazin geben? Dann schreiben Sie uns gerne eine Mail (an: redaktion@psychologie-heute.de).

Wir lesen jede Nachricht, bitten aber um Verständnis, dass wir nicht alle Zuschriften beantworten können.

Quellen

Amelia Aldao, Susan Nolen-Hoeksema u. a.: Emotion-regulation strategies across psychopathology: A meta-analytic review [Meta-Analysis]. Clinical Psycholy Review, 30/2, 2010, 217–237

Sven Barnow, Eva Blitzner, Insa Borm, Christina Sauer: Emotionsregulation: Therapiemanual und Arbeitsbuch: Training zum flexiblen Umgang mit Gefühlen. Springer 2024 (2. Auflage)

Sven Barnow: Handbuch Emotionsregulation: Zwischen psychischer Gesundheit und Psychopathologie. Springer 2020

Gunnar Eismann, Claas-Hinrich Lammers: Therapie-Tools Emotionsregulation. Beltz 2017

Gunnar Eismann: Emotionsregulation. 75 Therapiekarten. Beltz 2021

Lisa Feldman Barrett: Siebeneinhalb Lektionen über das Gehirn. Rowohlt 2023

Lisa Feldman Barrett, James Gross u. a.: Knowing what you're feeling and knowing what to do about it: Mapping the relation between emotion differentiation and emotion regulation. Cognition & Emotion, 15/6, 2001, 713–724

Lisa Feldman Barrett: Wie Gefühle entstehen. Eine neue Sicht auf unsereEmotionen. Rowohlt 2023

Lisa Feldman Barrett: TED Talk “You aren't at the mercy of your emotions – your brain creates them

Gerd Gigerenzer: Bauch Entscheidungen. Pantheon 2021

Dörte Grasmann, Anke Felber, Felix Euler: Therapie Tools.Emotionsregulation bei Kindern und Jugendlichen. Beltz 2023

James J. Gross: Emotion regulation: Current status and future prospects. Psychological Inquiry, 26/1, 2015, 1–26

Andrew Huberman: Podcast „Dr. Lisa FeldmanBarrett: How to understand emotions“, Huberman Lab 2023

Daphne Y. Liu, Tabea Springstein u. a.: Everyday emotion regulation goals, motives, and strategies in current and remitted major depressive disorder: An experience sampling study. Journal of Psychopathy and Clinical Science, 132/5, 2023, 594–609

Yael Millgram, Matthew K. Nock u. a.: Knowledge about the source of emotion predicts emotion-regulation attempts, strategies, and perceived emotion-regulation success. Psychology Science, 34/11, 2023, 1244–1255

Cara Palmer, Joanne L. Bower u. a.: Sleep loss and emotion: A systematic review and meta-analysis of over 50 years of experimental research. Psychological Bulletin, 150/4, 2024, 440–463

Ilka Müller, Luise Pruessner, u. a.: If it ain't broke, don't fix it: Positive versus negative emotion regulation in daily life and depressive symptoms. Journal of Affective Disorders, 348, 2024, 398–408

Allison S. Troy, Amanda J. Shallcross u. a.: A person-by-situation approach to emotion regulation: cognitive reappraisal can either help or hurt, depending on the context. Psychological Science, 24/12, 2013, 2505–2514

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2025: Ich entscheide, was ich fühle