Allein, allein

Drei Bücher über die Chancen und Risiken des Alleinseins und wie wir die Einsamkeit entstigmatisieren können.

Gibt man bei einer Internetsuchmaschine „loneliness epidemic“ ein, erhält man mehr als 6,7 Millionen Verweise. Jüngst diagnostizierten Psychologen und Psychologinnen von der Graduate School of Education der Harvard University, dass Einsamkeit auf dem Vormarsch sei, vor allem bei der Altersgruppe der 18- bis 25-Jährigen, auch infolge coronärer Kontaktsperren.

Genau an diesen Themenkreis knüpft Daniel Schreiber in seinem Buch mit dem Titel Allein an. Der in Berlin lebende Journalist konzentriert sich bereits seit längerem auf das Genre des personal essay – er schrieb schon über Trinken und Glück, Zuhause und Heimatsuche. Nun räsoniert er über das Alleinsein. Etwas weitschweifig ist das geraten.

Nicht selten muss man sich durch intime Geständnisse hindurcharbeiten, die in früheren Zeiten einem Tagebuch anvertraut worden wären, bis man auf irisierend funkelnde Beobachtungen stößt. Etwa: „Unser Unglücklichsein wird heute häufig als ein individuelles Scheitern definiert, obwohl es durchaus eine adäquate Reaktion auf die Welt und unsere Gesellschaft sein kann. Auch unser Alleinsein wird in der Regel als solch ein persönliches Scheitern wahrgenommen, als eine Folge mangelnder Attraktivität, mangelnden wirtschaftlichen Erfolgs, mangelnder psychischer Fitness.“

Rüdiger Safranski, 77, ist Literaturwissenschaftler und Philosoph und gut eine ganze Generation älter als Daniel Schreiber. Er hat viele Biografien publiziert, über die Philosophen Heidegger, Nietzsche und Schopenhauer und über Dichter wie Goethe, Schiller und E.T.A. Hoffmann. Er dachte auch über Zeit an sich nach. Nicht wirklich philosophisch ist sein neuer Band Einzeln sein, auch nicht strikt soziologisch. Dafür geht Safranski zu gern in die Historie zurück, von der Renaissance bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, von Michel­angelo bis Sartre, von Luther bis Stefan George und dem sich als ein nonkonformistischer Partisan inszenierenden Ernst Jünger.

Mitgefühl über Einsamkeit

Safranski erweitert den Denkraum des Alleinseins in die für intellektuelle wie künstlerische Aktivitäten nahezu unumgänglichen Zustände der „Egoklausur“, des Rückzugs, des sich Entziehens. Dabei geht er auch auf Massen- und Ich-Psychologie ein, von Montai­gne über Freud zu Elias Canetti und Hannah Arendt. Die Gesellschaft per se löst als Großveranstaltung bei Safranski eher Unwohlsein aus. „Noch nie“, formuliert er apodiktisch, sei die Gesellschaft „dem Einzelnen so dicht auf den Leib gerückt wie heutzutage und dringt mit ihren digitalen Gespenstern in jeden Winkel der Seele“. Safranskis geistesgeschichtliche Studie kreist weniger um Angst oder psychische Notlagen, hier wird Alleinsein eher als Raum für Kreativität, Individualität und gesellschaftlichen Rückzug begriffen, der es Genies ermöglicht, sich zu entfalten.

Der Psychoanalytiker und Psychiater Rainer Gross hat 35 Jahre als Sozialpsychiater gearbeitet, davon die Hälfte als Chefarzt an einem Lehrkrankenhaus der Medizinischen Universität Wien. Heute arbeitet er als Therapeut und Supervisor in Wien. In viele angenehm kurze Kapitel hat Gross sein gut lesbares Buch Allein oder einsam? untergliedert. Er geht von medizinischen und psychiatrischen Positionen aus, die er mit sozialwissenschaftlichen anregend kollidieren lässt. Darauf folgen Untersuchungen der Identitätskonstruktion und der Außenperspektive.

Hier geht es dann etwa um honjok, das südkoreanische Lebensmodell selbstgewählten Alleinseins, und hikikomori, ein japanischer Begriff, der Menschen beschreibt, die sich für viele Monate oder Jahre in ihre Häuser oder sogar nur in ihre Schlafzimmer zurückziehen und zu anderen Menschen – außer ihrer Familie – den Kontakt meiden. Einsamkeit und gestörte Resonanz sind demzufolge nicht erst Produkte einer atomisierenden Massenmoderne. Woraufhin Gross spannende Darstellungen der „Innenansichten“ folgen lässt, über Trennungsangst, soziale Phobien, Kindheitstraumata und therapeutische Behandlungsmöglichkeiten.

Im Finale plädiert er für Selbst- und somit Außenweltakzeptanz, denn dann „erscheinen andere Menschen meist als weniger bedrohlich, ihre Schwächen weniger dramatisch und kritikwürdig“. Und der einzelne einsame Mensch als weniger einsam. Im Ausklang zitiert Rainer Gross Bertrand Russell: „Jeder, der überhaupt begreift, worum es im menschlichen Leben geht“, so Russell, „fühlt manchmal die seltsame Einsamkeit jeder einzelnen Seele. Die Entdeckung derselben Einsamkeit in andern aber bewirkt eine seltsame Verbindung und ein Wachsen des Mitgefühls.“

Daniel Schreiber: Allein. Hanser Berlin, München 2021, 160 S., € 20,–

Rüdiger Safranski: Einzeln sein. Eine philosophische Herausforderung. Hanser, München 2021, 288 S., € 26,–

Artikel zum Thema
Leben
Alleinsein klingt nach Einsamkeit und Grübeln. Psychiater Rainer Gross erklärt, wie man Alleinsein erlernen und schätzen kann.
Leben
Alleinsein klingt nach Einsamkeit und Grübeln. Dabei verbessern sich sogar unsere Beziehungen, wenn wir genug Zeit mit uns selbst verbringen.
Psychologie nach Zahlen: Fehlt es uns an Verbundenheit, fühlen wir uns verlassen. Fünf Risiken, die dazu beitragen, dass Menschen vereinsamen
Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2022: Sehnsucht
Anzeige
Psychologie Heute Compact 78: Was gegen Angst hilft