Plötzlich ging ein Riss durch ihr Leben. Innerhalb von drei Monaten starben ihr Mann, ihre Mutter und drei ihrer engsten Freunde. „Zum Glück konnte ich zunächst nur einen gewissen Grad des Unglücks erfassen“, schreibt Irmtraud Tarr. Die Psychotherapeutin, Konzertorganistin und Autorin legt ein bewegendes Buch vor. Bewegend deshalb, weil sie uns teilnehmen lässt an ihrer Verzweiflung und ihrer Trauer, aber auch an einem Prozess, der sie schließlich wieder zurück ins Leben führte.
Man spürt, dass das Buch einer tiefen persönlichen Erfahrung entstammt. Im ersten Teil geht es um Verluste und Gefühle, in der zweiten Hälfte schildert sie die Bewältigungsversuche. Im Zentrum steht der Verlust ihres Mannes Edward Tarr – ein bekannter Trompetenvirtuose, der 83-jährig gestorben ist. Mit 15 Jahren hatte sie ihn kennengelernt – 40 Jahre waren sie ein glückliches Paar.
„Meine Mutter und mein Mann – beide starben in meinen Armen. Erlebt habe ich dabei, dass in diesen Stunden so Unbegreifliches geschieht, dass ich sagen möchte: Es geschieht mehr als im ganzen Leben vorher.“ Der Tod des Partners ist für sie ein Schicksalsschlag, ein Ereignis, das das eigene Ich zerschmettert.
Der Schmerz sei überwältigend, doch jeder erlebe ihn anders, er habe immer seine eigene Intensität. Der Tod eines geliebten Menschen sei aber auch „etwas Wunderschönes, was einen das Leben in der Tiefe erfahren und durchleben lässt“. Allerdings habe ihr niemand verraten, dass die Trauer in Wellen heranrollt, in denen man sich fühlt, als würde man fast ertrinken.
In den bekannten Phasenmodellen der Trauer, wie sie etwa John Bowlby, Elisabeth Kübler-Ross oder Verena Kast beschrieben haben, konnte sie sich nicht wiederfinden.
Die Endlichkeit annehmen
Ob man zerbreche oder es schaffe, daran zu wachsen, hänge vom Zusammenspiel faszinierender geistiger und emotionaler Faktoren ab. Tarr war vor allem anderen die soziale Unterstützung wichtig, aber sie aktivierte auch eigene Ressourcen, etwa das Schreiben. „Schreiben heilt Wunden. Es ist eine besondere Form, mit der Welt zu reden.“ Trost fand sie auch in Gebeten und Ritualen, sie gaben ihr Halt. „Ich habe mich wie früher als Mädchen mit Kakao, Kaba und Milchreis getröstet.“
Hilfreich sei auch ein Perspektivenwechsel. Wenn man einmal versuche, sein Leben vom Ende her zu betrachten und die Endlichkeit anzunehmen, geschehe etwas Paradoxes. Man verliere die Angst vor der eigenen Schwäche, Bedürftigkeit, Verletzbarkeit.
Ihr neues Leben nennt sie „Leben für Fortgeschrittene“, weil es aus der Not geboren war und sie eine Fähigkeit an sich selbst wiederentdeckte: auf sich selbst vertrauen.
Bücher über den Zusammenbruch heiler Welten gibt es viele. Ungewöhnlich an diesem Werk ist, dass eine professionelle Helferin beschreibt, wie sie trauert und ihren Schmerz verarbeitet, und dabei nicht auf Therapiekonzepte, sondern auf urmenschliche pragmatische Bewältigungsstrategien zurückgreift.
Literatur:
Irmtraud Tarr: Was rettet. Mit Verlusten leben. Patmos, Ostfildern 2021, 160 S., € 18,–.