„Plötzlich bin ich ein Teil von etwas Großem“

Tatjana Schnell ist Psychologin und erforscht den Lebenssinn. Ein Gespräch über Krisen, Pilgern und wie wir herausfinden, was für uns existenziell ist

Das Bild beschreibt eine Menschenmenge auf dem Jacobsweg.
Die Sinnsuche im Leben führt uns auf viele Pfade – manche auch auf den Jacobsweg. © Víctor Nuño//Getty Images

Viele Menschen stellen sich Fragen zum Sinn ihres Lebens, wenn sie eine Krise erleben – wenn zum Beispiel die Partnerin stirbt oder sie ihren Arbeitsplatz verlieren. Umgekehrt resultiert aber nicht aus jeder Krise automatisch ein erfüllteres Dasein. Was ist nötig, damit aus einer schweren Lebensphase ein sinnerfüllteres Leben erwächst?

Dazu ist der erste Schritt: dass ich mich auf das Leiden einlasse. Eine Krise verändert dann etwas bei mir, wenn ich realisiere, dass etwas anders ist als ich es bislang angenommen habe. Es tut sich eine Lücke auf zwischen dem, was ich dachte, was da ist, und dem, was plötzlich wirklich da zu sein scheint. Diese Lücke kann ich ignorieren oder ich kann sie sehen. Und wenn ich sie sehe, dann ist es oft, als ob mir der Boden unter den Füßen weggezogen wird, so beschreiben es Menschen in Interviews. Als ob alles, was sie vorher geglaubt haben über die Welt, nicht mehr gilt. Ein Interviewter hat mal zu mir gesagt: „Es ist wie ein intellektueller Suizid, plötzlich bin ich weg, das, was ich von meinem Selbstverständnis her war, gibt es nicht mehr.“ Deswegen ist es auch so schmerzhaft. Aber wenn ich da nicht drangehe und mir anschaue, was mir die Krise sagt, dann gibt es auch keine Chance, das Leben neu aufzubauen. Und dieses Hinschauen kann eben heißen zu merken, dass vieles nicht stimmt, was ich dachte. Dabei handelt es sich oft um Überzeugungen, die uns eigentlich guttun, die so genannten positiven Illusionen: „Ich bin besser als andere.“ „Ich sterbe bestimmt nicht.“ „Man kann alles kontrollieren, wenn man sich richtig anstrengt.“ „Jeder bekommt seinen gerechten Lohn.“ Das sind Annahmen, die uns schützen. Und wenn dann etwas passiert, das uns zeigt: So ist es nicht, dann wird uns diese Schutzhülle oder diese rosa Brille genommen.

Können auch andere Menschen in meinem Leben den Prozess anstoßen, dass ich mich mit Fragen der Sinnerfüllung beschäftige, oder muss das aus mir selbst herauskommen? Meistens sind eher sehr massive, äußere Anlässe der Auslöser, also häufig Lebensereignisse, eine Trennung, die Ausbildung geht zu Ende, eine Erkrankung. Aber wir haben bei großen Stichproben gefragt: Wodurch sind bei Ihnen Sinnkrisen entstanden? Und da gab es schon ein Drittel der Befragten, die gesagt haben: Das war jetzt nicht ein bestimmtes Ereignis. Das wurde auch in unseren Interviews deutlich: Es gibt Menschen, die sich häufig Gedanken machen und dabei zu dem Schluss kommen, dass etwas nicht stimmt, was sie gelernt haben oder wie sie erzogen wurden, oft auch in Bezug auf Religion. Dann kommen solche Fragen immer häufiger und sie tauchen in Gesprächen auf oder die Menschen lesen Bücher dazu. Das können dann schon Einflüsse von anderen sein, dass man etwas Wichtiges liest oder heutzutage vielleicht auch von Influencerinnen oder Influencern hört. Es ist nicht das häufigste, aber das gibt es auch.

Ihre Forschung hat gezeigt, dass Menschen mit niedriger Sinnerfüllung nicht unbedingt an einer Sinnkrise leiden müssen. Können Sie das erläutern?

Ja, das sind Menschen, die zum Beispiel annehmen, dass sie sowieso nicht viel dazu beitragen können, wie ihr Leben verläuft, sondern dass das durch andere bestimmt wird. Sie glauben auch, dass es schwierig ist, etwas zu verändern, sie erwarten nicht, erfolgreich zu sein. Sie sagen sich: Wenn ich mich nicht für etwas engagiere oder begeistere, dann besteht auch nicht die Gefahr zu scheitern. Diese Angst vor Misserfolg verhindert, dass sie überhaupt etwas versuchen. Positiv umschrieben würde ich sagen, es ist eine Art, mit einer als sehr komplex und intransparent erlebten und sehr herausfordernden Welt so umzugehen, dass ich vermeide, auf die Nase zu fallen. Es ist eine Art Kapitulation. So beschreiben es auch viele: „Ich tue das, was von mir erwartet wird. Es ist ja sowieso alles zu komplex und zu schwierig, das versteht ja kein Mensch. Und für mich tut ja auch niemand was, deswegen tue ich auch nichts für andere.“ Bei dieser Indifferenz sind die starken Sinnprädiktoren meist nicht vorhanden, also weder Generativität noch Religiosität oder Spiritualität. Und auch keine Selbsterkenntnis, kein Interesse daran zu wissen, wer man ist.

Können Sie beziffern, wie viel Prozent der Menschheit das betrifft?

Über die gesamte Welt lässt sich das nicht sagen, weil wir beim Thema Sinnerfüllung deutliche Unterschiede zwischen den Kulturen finden. Aber ich kann es für Deutschland über eine Zeitspanne hinweg betrachten: Als ich 2005 mit der repräsentativen Forschung zu Sinnfragen angefangen habe, da war diese Gruppe ein Drittel der Deutschen. Und als ich vor der Corona-Krise neue Datensätze mit über 10.000 Menschen hatte und daraus eine annähernd repräsentative Stichprobe gezogen habe, da waren es deutlich weniger, nämlich nur noch ein Viertel der Bevölkerung. Es hat sich auch verändert, wer das ist: Zu Beginn des Millenniums waren es vor allem junge Menschen, 16- bis 29-Jährige. Da wussten viele noch nicht, wohin es im Leben gehen soll. Fast die Hälfte dieser jungen Menschen zählte damals zu den Indifferenten. Und heute findet sich Indifferenz am häufigsten unter Menschen im mittleren Alter, also 40, 50 Jahre alt. Das heißt jedoch nicht, dass sich die Tendenz im mittleren Alter verstärkt hat – sie ist ungefähr gleichgeblieben. Allerdings ist die Indifferenz bei den Jugendlichen deutlich weniger geworden. Ein Grund dafür ist unter anderem vermutlich der Klimawandel: Junge Menschen merken, dass sie nicht gleichgültig dahinleben können, sondern dass es um existenzielle Themen in der Welt geht, die es wert sind, dass man sich für sie einsetzt.

Sie beschreiben in Ihrem Buch Psychologie des Lebenssinns die Technik des „Leiterns“, die einem dabei helfen kann, „innerlich aufzuräumen“. Können Sie diese Technik einmal beschreiben?

Das ist eigentlich sehr simpel: Es geht darum, dass man mit einer Frage einsteigt, die idealer Weise relativ existenziell ist, zum Beispiel: Was ist für dich ein guter Mensch? Und dann nenne ich vielleicht eine Eigenschaft. Nach dieser Antwort wird gefragt: Was bedeutet das für dich? Und dann erzähle ich vielleicht von einer Begegnung mit einem Menschen, bei der mir die Eigenschaft positiv aufgefallen ist. Dann fragt man wieder: Wofür steht dieses Verhalten für dich? Man steigt die Leiter immer tiefer hinab, es wird so oft nachgefragt, bis man auf dem Grund, dem existenziellen Fundament, angekommen ist. Am Ende stehen dann so genannte Letztbedeutungen, die Quellen unseres Lebenssinns wie zum Beispiel Fürsorge, soziales Engagement, Generativität oder Entwicklung.

Sie raten dazu, das mit jemandem zusammen zu machen.

Ja, zum Beispiel im Dialog mit einer guten Freundin. Und zwar vor allem deshalb, weil es wirklich anstrengend ist. Wir denken häufig: Das ist jetzt die Antwort. Und wenn wir dann allein mit uns sind, ist es viel leichter zu sagen: Ja, das ist es jetzt. Aber wenn jemand sagt: Überleg doch nochmal: Was heißt das denn jetzt für dich, was heißt dieser Begriff oder wofür steht das – ehrlich zu sein oder anzupacken oder für andere da zu sein? Dann ist es nochmal viel motivierender, als wenn man es alleine tut.

Die Antworten kann man untereinander aufschreiben und in der Regel entstehen dabei so genannte Sinnbäume. Auf die erste Nachfrage werden oft mehrere Bedeutungen genannt; das ist normal, weil es verschiedene Gründe gibt, warum wir Dinge wichtig finden. Die Antworten können sich dann noch weiter verästeln, aber gegen Ende des Prozesses werden es wieder weniger, so dass man von einer Frage in der Krone auf zwei bis drei grundlegende Bedeutungen in den Wurzeln kommt.

Muss man nicht sehr sprachfähig sein, um diese Leitertechnik anzuwenden und immer präzise beschreiben zu können, was man genau meint?

Nein, gar nicht, das ist ja das Spannende. Ich habe solche Interviews als Grundlage meiner Sinnforschung geführt. Und wir haben sehr großen Wert darauf gelegt, eine breite Stichprobe zu bekommen. Wir haben die Einladungen zu den Gesprächen weit gestreut, in Imbissbuden, bei Arztpraxen, in der Tageszeitung, und fanden so Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit allen Ausbildungshintergründen und mit unterschiedlichsten kulturellen Hintergründen. Man kann Fragen ganz einfach formulieren wie: Was ist für dich ein guter Mensch? Was feierst du? Was ist für dich ein guter Tag? So was kann jeder Mensch beantworten. Und wenn man dann fragt: Warum das? Dann beginnen Menschen, darüber nachzudenken, und fassen es in Worte. Diese Reflexion hilft dabei, innerlich „aufzuräumen“, und bringt uns weiter. Das muss nicht komplex formuliert sein. Manche Interviews dauerten bis zu acht Stunden, und fast überall wurde geweint. Die Personen wollten reden, das war sehr bewegend.

Und es wurde geweint, weil viele Menschen auf Dinge und Erlebnisse kamen, die zentral waren in ihrem Leben?

Genau.

Sie zählen in Ihrem Buch die Lebensbedeutungen auf, die am stärksten mit Sinnerfüllung verknüpft sind. Das sind – auf den ersten fünf Plätzen – Generativität, Fürsorge, Religiosität, Harmonie und Entwicklung. Was mich bei der gesamten Aufstellung verwundert hat, war, dass Bedeutungen, die mit dem Beruf verknüpft sind wie Leistung, Wissen oder Macht, nicht auftauchen. Und auch dass Gesundheit fehlte. Warum kommen berufliche Aspekte und Gesundheit bei den Dingen, die uns zentral Sinn stiften im Leben, nicht vor?

Das liegt zum einen an der Art der Auswertung. Ich habe mich im Buch dafür entschieden, die Lebensbedeutungen zu listen, die die höchsten Korrelationen mit Sinn aufweisen. Aber man kann es auch anders betrachten: Verwendet man eine sogenannte multiple Regression, so kann man verschiedene Prädiktoren gleichzeitig analysieren. In der Realität hängt alles mögliche miteinander zusammen: Wer zum Beispiel besonders wissensdurstig ist, ist vielleicht nicht so traditionsorientiert, vielleicht auch weniger gemeinschaftsorientiert. So gibt es also Interkorrelationen zwischen den Lebensbedeutungen. Wenn man also eine multiple Regression rechnet, dann sehen wir, welche von den Prädiktoren am ehesten mit Sinn einhergehen, wenn man die Zusammenhänge, die die untereinander haben, mit einbezieht.

Diese komplexere Analyse ergibt ein etwas anderes Bild. So ist zum Beispiel Macht unter den wichtigen Lebensbedeutungen, die Sinn stiften. Auch Bodenständigkeit taucht dann auf. Leistung hingegen, das wissen wir aus vielen anderen Analysen, ist kein super Sinngeber. Vermutlich weil Leistung relativ external erlebt wird, also jemand anders definiert, was eine gute Leistung ist. Oft liegt der Leistung auch ein sozialer Vergleich zugrunde, und soziale Vergleiche tun uns ohnehin nicht gut. Beim Thema Gesundheit sehen wir, dass sie vor allem für Menschen wichtig ist, die sie gefährdet sehen. Das finde ich sehr spannend. Das heißt, wenn ich keine Probleme mit meiner Gesundheit habe, dann nehme ich sie als so selbstverständlich, dass das gar nicht im Vordergrund steht. Erst wenn ich Probleme bekomme, wird sie zu einer wichtigen Sinnquelle.

Sie haben in einer Längsschnittstudie Menschen befragt, die den Jakobsweg nach Santiago de Compostela gegangen sind. Dabei stellte sich heraus, dass bei ihnen nach dem Pilgern das Gefühl der Sinnerfüllung deutlich angestiegen war. Sie beschreiben, dass die Phasen des Pilgerns – sich ablösen vom Alltagsleben, die Rolle des Pilgerers annehmen und am Ende der Wiedereintritt in den Alltag – die Menschen verändern. Können Sie sich vorstellen, dass man diese Phasen im Alltag irgendwie nachstellt?

Ich war jüngst erst bei einem Pilgersymposium, und das war sehr inspirierend: Die Pilgerinnen und Pilger sind so erfüllt von ihrer Erfahrung. Viele haben berichtet: Wenn man einmal geht, dann geht man immer wieder, es entsteht eine Sehnsucht nach der Erfahrung. Sie betonen auch: Das ist etwas ganz anderes, als wenn man zuhause einen langen Spaziergang macht. Das heißt, es kommt auf die Intensität und die Dauer an, die einen wirklich ganz rausnehmen aus dem sonstigen Leben. Das nachzustellen im Alltag ist aus meiner Sicht kaum möglich. Wie schaffe ich es, mich im Alltag meiner selbst zu entledigen? Beim Pilgern bin ich nicht mehr die Professorin und ich habe keinen Anzug mehr an als Manager. Ich bin einfach nur die Gehende. Im Alltag ist es deutlich schwieriger, den eigenen Rollen zu entkommen.

Das Ritualisierte am Jakobsweg ist sicherlich auch wichtig, dass alles eine feste Form hat, dass es ein Symbol gibt, das ich mir an den Rucksack hängen kann…

Ja, der Jakobsweg ist aufgeladen durch die Symbolik, durch die Masse an Menschen, die ihn gegangen sind, und durch das Alter des Weges: Wie lange er in die Geschichte zurückreicht. Plötzlich bin ich Teil von etwas ganz Großem.

Tatjana Schnell ist Psychologieprofessorin an den Universitäten in Oslo und Innsbruck. Ihr Buch Psychologie des Lebenssinns ist in 2. Auflage bei Springer erschienen

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 9/2021: Erfüllter leben
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