Musik ist ästhetischer Genuss, aber vor allem berührt sie uns auf einer viel elementareren Ebene: Sie hat einen direkten Draht zu unseren Gefühlen. Ein klagendes Stück kann uns zu Tränen rühren, ein peitschender Groove weckt schlagartig unsere Lebensgeister. Kaum vorstellbar, dass jede Art von Musik einen Menschen völlig kaltlässt – und doch gibt es dieses Phänomen. Es nennt sich „musikalische Anhedonie“ und die wenigen Forschungsarbeiten dazu haben Sara Holm, Alexander Schmidt und Christoph Ploner von der Charité und der Hochschule für Musik in Berlin jetzt in der Zeitschrift für Neuropsychologie zusammengestellt.
Der erste Fall wurde 1924 von dem deutschen Psychologen Carl Stumpf dokumentiert: Ein Militärmusiker suchte medizinischen Rat, weil er den Klang der Musikinstrumente nicht mehr so gut auseinanderhalten konnte wie früher. Vor allem aber beklagte er, dass er beim Musizieren ebenso wie beim Hören seiner einst geliebten Musik plötzlich emotional völlig unbeteiligt blieb. Erst viele Jahrzehnte später wurden weitere Fallgeschichten publiziert.
So berichteten britische Forscher von einem Radiomoderator, dessen Gehirn durch einen Schlaganfall schwer in Mitleidenschaft gezogen wurde. Nach zwölf Monaten waren glücklicherweise die Ausfälle in Sprache und Motorik überwunden – doch was zum unendlichen Bedauern des Klassikliebhabers zurückblieb, war ein kompletter Verlust seiner Fähigkeit, sich beim Musikhören emotional berühren zu lassen. Ähnlich erging es einem japanischen Rentner, der nach einer Schädigung des rechten Schläfenlappens sich nicht mal mehr an seiner Lieblingsband erfreuen konnte, oder dem Chorleiter, der nach einer Hirnblutung Musik zwar noch verstehen, aber nicht mehr genießen konnte.
Die Spärlichkeit der Fallberichte suggeriere, dass musikalische Anhedonie ein seltenes Phänomen sei, doch davon sind Sara Holm und ihre Kollegen nicht überzeugt: Womöglich wurden eben nur Fälle von Musikliebhabern mit einem hohen Leidensdruck registriert. Amerikanische Forscher untersuchten daher vor drei Jahren eine Gruppe von 78 Patienten mit einer umgrenzten Hirnschädigung etwa nach einem Schlaganfall, einer Epilepsie oder einer Infektion. Immerhin bei neun von ihnen war das emotionale Mitempfinden beim Musikhören in irgendeiner Weise beeinträchtigt. Oft war die Verbindung zwischen der Wahrnehmungsverarbeitung der Musik und dem Belohnungszentrum des Gehirns gestört – jenem Netzwerk, das uns Lustempfindungen beschert, etwa auch beim Essen oder beim Sex.
Dass musikalische Anhedonie auch bei gesunden Menschen ohne neurologische Verletzung vorkommt, stellten spanische Forscher 2014 in einer Onlineumfrage fest. Sie baten zehn von ihnen ins Labor und stellten fest, dass sie in einem Glücksspiel um Geld durchaus emotional mitfieberten, nicht aber beim Bewerten von Musikstücken. Übrigens identifizierten die Spanier im anderen Extrem eine Gruppe von „hyperhedonischen“ Probanden, die emotional und körperlich überaus sensibel auf Musik ansprachen.
Sara E. Holm u.a.: Musical Anhedonia. The Selective Absence of Emotions Toward Music. Zeitschrift für Neuropsychologie, 31, 2020, 62–68. DOI: 10.1024/1016-264X/a000292