Was uns nervt

Psychologie nach Zahlen: 5 Dinge, die uns zur Weißglut bringen.

Im 17. Jahrhundert störten sich manche Europäer an der Kartoffel. Diese sei nur ein Trend aus der Neuen Welt und werde sicherlich bald verschwinden. Hundert Jahre später zeigten sich viele kluge Köpfe von Gott und der Welt irritiert. Buchstäblich. Weil beide kaum jenen Gesetzen gehorchten, die die Vertreter der beginnenden Naturwissenschaften beobachteten. Wiederum ein Jahrhundert später nervten qualmende Schornsteine besonders stark. Kurzum: Die Menschheit ist wohlvertraut mit dem Gefühl der Irritation. Wieso empfinden wir überhaupt bestimmte Dinge als nervig? Und auf welche Signale und Konstellationen reagieren wir dünnhäutig? Diesen Fragen ging der amerikanische Psychologe Joe Palca in einer Internetumfrage nach. Was also nervt uns heute?

1. Laute Geräusche

„Auffällig viele Irritationen sind auditiver Natur“, beobachtete Palca. Die störendsten Geräuschquellen sind bellende Hunde, laute Laubbläser, Autohupen sowie Möchtegernsänger. „Besonders nervig und alltäglich ist Baustellenlärm“, schreibt der Psychologe. Laute Kräche sorgen jeden Tag für neuen Frust. Ebenso irritierend sind schrille und komplexe Geräusche wie etwa das gefürchtete Kratzen von Fingernägeln entlang einer Tafel. Dass dieser Klang so lästig ist, dafür sorgt laut Joe Palca ein evolutionär alter Teil des menschlichen Gehirns: Das Mittelhirn wittert in dem durchdringenden Ton den Warnschrei oder Hilferuf eines Mitprimaten. Ähnliches gilt für die afrikanische Vuvuzela. Hier sei nicht allein die Lautstärke so störend – sondern vor allem die Neigung des menschlichen Gehirns, den Ton als Warnsignal zu interpretieren. Manche Menschen soll der Vuvuzelalärm gar an das Herantrampeln einer Elefantenherde erinnern.

2. Leise Geräusche

„Leise Klänge können ebenfalls stören“, schreibt Palca und zitiert eine Untersuchung mit Angehörigen eines afrikanischen Stammes: Die Mafa in Kamerun und Nigeria fühlen sich demnach in besonderer Weise von ferner dissonanter Musik gestört. Bestimmte leise Geräusche nerven sogar über die Grenzen von Spezies hinweg, zum Beispiel das Summen einer Mücke. Es macht sowohl Zwei- als auch Vierbeinern zu schaffen. Um das Gefühl der Irritation besser zu verstehen, empfiehlt Palca, Menschen mit Misophonie zu studieren (siehe Heft 1/2020: Die Geräusche des Körpers). Diese Personen haben eine verminderte Toleranz gegenüber den Lautäußerungen um sie herum. Sie reagieren mit intensiven Gefühlen auf all das, was die meisten von uns nicht einmal wahrnehmen: Schon das Atmen oder Gähnen kann bei ihnen starke Irritation und Unruhe auslösen. Solche emotionalen Reaktionen wissenschaftlich besser zu verstehen würde nicht nur Misophoniebetroffenen Aufschluss darüber geben, wie wir effektiver mit leisen, aber störenden Geräuschen umgehen können.

3. Die lieben Mitmenschen

Und wer sind die Menschen, von denen sich Palcas Umfrageteilnehmer am meisten irritiert fühlen? Zu dieser Kategorie zählen lautstarke Nachbarn ebenso wie Telemarketing-Anrufer, die uns beim Abendessen rasch mit ein paar Produktfragen löchern wollen. Ebenso nervig sind Drängler, die sich in Schlangen prinzipiell nicht hinten anstellen, sondern rücksichtslos nach vorne zwängen. Selbst Stars und Sternchen sind bisweilen anstrengend. „Lästig sind all jene, die wir nicht ignorieren können, selbst wenn wir es wollen“, so Palca. Seine Umfrageteilnehmer führten eine weitere Spezies von nervigen Menschen auf: all jene, die bestimmte Ausdrücke und Kommentare benutzen. Dazu gehören Sätze wie „Es ist, wie es ist“ und das Akronym „LOL“, das manche Zeitgenossen nicht nur beim Chatten, sondern auch in alltäglichen Gesprächen benutzen. Die Irritation, die wir im Umgang mit derlei Störenfrieden in unserem Umfeld empfinden, sei „die schwächste Form von Wut“, so Palca.

4. Lästige Umstände

Welche Situationen sind nervtötend? Zum Beispiel – da waren sich die von Palca Befragten einig – die Bedienung automatischer Anrufweiterleitungen, bei der sie durch die Eingabe bestimmter Zahlen und nach langen Wartezeiten mit etwas Glück endlich zum Kundendienst durchgestellt werden. „Damit uns ein Umstand nervt, muss er mindestens drei Kategorien erfüllen“, schreibt Palca. Zunächst darf er nicht gefährlich für uns sein. Außerdem darf die Quelle unserer Irritation nicht ständig präsent sein, sondern sie schlägt unvermittelt zu – wie die Schranke am Bahnübergang, die uns ausgerechnet immer dann zum Warten zwingt, wenn wir es besonders eilig haben. „Gerade wenn etwas unberechenbar ist, können wir uns kaum dagegen wappnen und sind dem Umstand ausgeliefert – was uns besonders leicht verärgern und lästig werden kann.“ Und zuletzt muss etwas über einen schwer abzusehenden Zeitraum anhalten, damit es uns nervt – beispielsweise das Warten auf einen Flug, dessen Boarding immer wieder um zehn Minuten hinausgezögert wird, so dass man sich nicht auf eine festgelegte Warte­zeit einrichten kann.

5. Die Technik

Selfie-Sticks schafften es in Palcas Umfrage auf die Liste der irritierendsten Alltagsgegenstände. Im alltäglichen Umgang mit der Kommunikationstechnik fanden die Befragten vor allem virtuelle Assistenten wie Siri und Alexa zum Haareraufen, ebenso die zahlreichen Pop-up-Werbungen im Internet. Bei den Fortbewegungsmitteln wurden besonders Electroscooter als nervtötend empfunden – und überhaupt, wie ein Teilnehmer es formulierte, „alle Technologien, die der Erfindung des Rads folgten“.

Joe Palca: Why do we get annoyed? Science has irritatingly few answers. National Geographic US, 1/2020

Joe Palca, Flora Lichtman: Annoying. The science of what bugs us. Wiley, Hoboken 2011

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2020: Persönlichkeit: Histrionisch
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