Seit anderthalb Jahrhunderten erforschen Wissenschaftler den menschlichen Orientierungssinn – seit einiger Zeit auch mit einem überlebenswichtigen Ziel: In Zusammenarbeit mit Rettungskräften will man dazu beitragen, jene Menschen aufzuspüren, die sich in der freien Natur verlaufen haben. Der Psychologe Ed Cornell von der University of Alberta im kanadischen Edmonton ist einer der renommiertesten dieser Forscher. Er untersucht, wie Personen typischerweise reagieren, sobald sie feststellen, dass sie die Orientierung verloren haben.
„Menschen, die sich verlaufen, verhalten sich generell irrational“, berichtet Cornell. Die allermeisten tendieren dazu, ihre Situation noch zu verschlimmern, indem sie weitergehen. Dabei empfehlen Fachleute, an Ort und Stelle zu bleiben und auf Hilfe zu warten. Cornells Kollege Kenneth Hill hat mehr als 800 Fälle von Rettungsaktionen in Kanada untersucht. „Aber lediglich zwei Personen schonten ihre Kräfte und warteten, bis die Rettungsmannschaft eintraf“, so Hill. „Das Bedürfnis, nicht stehenzubleiben, sondern weiterzumarschieren, wird generell von der Angst befeuert, die mit der Ausschüttung von Adrenalin und ähnlichen Hormonen einhergeht.“
Unterschiedliche Strategien
Kinder indes reagieren vernünftiger. Sie bleiben meist an Ort und Stelle, wenn sie nicht mehr wissen, wo sie sind. „Das erklärt, warum 96 Prozent lebend gefunden werden, verglichen mit 73 Prozent der Erwachsenen“, berichtet Cornell.
Kinder mit Autismus suchen sich normalerweise eine Art bedachte Zuflucht, sei es ein Schuppen oder dichtes Gebüsch. Dagegen neigen Menschen mit Demenz dazu, sich in einer geraden Linie fortzubewegen, wenn sie die Orientierung verlieren. Sie behalten diesen Geradeauskurs bei, komme was wolle – und lassen sich dabei sogar auf riskante Manöver ein, etwa indem sie einen Fluss durchqueren. Und männliche Wanderer gehen oft noch buchstäblich so lange, bis sie jemand findet oder sie vor Schwäche zusammenbrechen.
Michael Bond: People who get lost in the wild follow strangely predictable paths. New Scientist, Februar 2020