„Pathologische Merkmale“

​Der Psychotherapeut Manfred Ruoß über mögliche Motive, sich mit der Natur auf extreme Weise auseinanderzusetzen.

Das Bild zeigt einen lächelnden Basejumper über den Wolken als Beispiel für Extremsport in der Natur
Basejumper im Flug: Für Extremsportler ist die Natur eine Arena zur Selbstverwirklichung. © Getty

Herr Dr. Ruoß, der Abenteurer Lionel Terray nannte Bergsteiger die „Eroberer des Nutzlosen“. Was suchen Menschen, wenn sie Berge besteigen und sich dabei extremen Gefahren aussetzen?

Für Freizeitbergsteiger gilt: Das Erleben der Natur an sich wird gesucht, angenehme Körpererfahrungen werden gemacht. Beim Höhersteigen und Klettern lässt sich ein Flow-Gefühl erfahren, ein erreichter Gipfel ist ein klares Erfolgserlebnis, und man erzielt gesundheitsförderliche Effekte. Ist man mit Freunden unterwegs, werden soziale Bindungen gestärkt.

Anders ist es, wenn das Bergsteigen in extremerer Form betrieben wird: Die Flow-, Gesundheits- und Genussaspekte treten dann zunehmend in den Hintergrund. Extreme Bergsteiger sind besonders vom Leistungs- und Konkurrenzdenken getrieben. Hier gilt der Satz: Der Wettbewerb ist gleichzeitig die Essenz des ambitionierten Alpinismus und sein blinder Fleck. Die Überwindung von Gefahren und die Bewältigung von Angst gelten als besondere Qualitätsmerkmale ambitionierter Alpinisten.

Ist Bergsteigen ein männlicher Sport?

Tatsächlich ist unser Stereotyp vom „Bergsteiger“ bis heute das eines Mannes. Zu diesem männlichen Stereotyp gehören beispielsweise: Eingehen von höheren Risiken, ausgeprägtes Leistungs- und Konkurrenzverhalten, starke Kontrollbestrebungen über andere, Ignorieren von Körpersignalen, Vernachlässigung der Gesundheit. Extrembergsteigerinnen haben solch männliche Züge übernommen.

Klar ist, dass der männliche Stil gesundheitsgefährdend ist und gerade beim Bergsteigen die Lebenszeit verkürzt. Für einen Freizeitalpinisten – egal ob männlich oder weiblich – ist ein solcher Stil nicht akzeptabel. Speziell gefährdend ist das Ignorieren von Körpersignalen. Männer gehen mitunter so lange weiter, bis sie tot umfallen, obwohl ihnen ihr Körper schon lange zuvor Warnzeichen gesendet hat.

Sie haben für Ihr Buch Zwischen Flow und Narzissmus. Die Psychologie des Bergsteigens die Biografien berühmter Extremkletterer ausgewertet und nach psychologischen Mustern gesucht. Gibt es Persönlichkeitseigenschaften oder Erfahrungen, die sie einen?

Alle Extrembergsteiger scheinen Gemeinsamkeiten aufzuweisen. Dazu gehören: Mangelerfahrungen in Kindheit und Jugend und die Erfahrung, den Anforderungen nicht zu genügen. In den Bergen werden dazu gegenteilige Erfahrungen gemacht. Es scheint ein Lebensmotto zu geben, das sich ungefähr so formulieren lässt: „Werde der beste Bergsteiger der Welt, dann werden alle zu dir aufschauen, auch dein Vater wird dich respektieren.“

Ein fragiles Selbst scheint bei allen vorzuliegen, das die Betroffenen durch beständiges Leistungshandeln zu stabilisieren suchen, ohne je einen Zustand der Zufriedenheit zu erreichen. Verbreitet findet man Probleme bei der Kommunikation mit anderen, ausgeprägtes Autonomie- und Dominanzstreben, Schwierigkeiten mit Partnern – am Berg und privat – und fehlende Empathie.

Sie fordern spezielle Therapieangebote für Extrembergsteiger. Warum?

Extrembergsteiger können Opfer ihrer kompromisslosen Leistungsorientierung werden und leiden häufig unter ihrer Besessenheit. Es ist an der Zeit, Angebote zu schaffen, die sie darin unterstützen können, aus ihren lebenszerstörenden Aktivitäten auszusteigen. Dies ist durchaus plausibel, denn extremes Bergsteigen hat auch pathologische Merkmale, und die Gefahr ist nicht unerheblich, dabei zu Tode zu kommen.

Sind Ihre Erkenntnisse auch auf andere Extremsportarten in der Natur übertragbar?

Sicher. Denken Sie beispielsweise an das Base-Jumping, bei dem von Punkten in der Natur, beispielsweise von Felsen gesprungen wird. Bei dieser Aktivität fällt besonders auf, wie wichtig das Erleben extremer Emotionen ist und welche Rolle die Steigerung des Risikos bei immer gewagteren Vorhaben spielt. Hier ist zu unterstellen, dass das Erleben extrem starker Gefühle zu süchtigem Verhalten führt, das nicht immer gut ausgeht: Dokumentiert sind seit Bestehens des Sports weltweit über 330 Todesfälle.

Welche Rolle spielt die Natur dabei?

Die Natur stellt die Arena, in der sich der Sportler verwirklicht, seine Taten vollbringt. Eine besondere innere Verbindung zu ihr ist dafür nicht nötig. Bei Sportkletterern ist es eindeutig so, dass sie die Felsen bevorzugen, zu denen sie direkt mit dem Auto fahren können. Das natürliche Ambiente wird von manch einem dieser Zunft eher als notwendiges Übel akzeptiert denn gemocht.

Ist das riskante Verhalten mancher Extremsportler auch ein Ausdruck der insgesamt zunehmenden Entfremdung des Menschen von der Natur, was meinen Sie?

Hier sollte man sich zunächst darüber im Klaren sein, inwiefern der Mensch der Natur schon einmal näher war und was das bedeutet hat. Haben Menschen jemals, wie man so sagt, „im Einklang mit der Natur“ gelebt? Menschen waren vor der Industrialisierung und dem Siegeszug der Naturwissenschaften ja eher wehrlose Opfer von Naturgewalten und haben heute einen relativ besseren Schutz vor der Natur gewonnen.

Extremsportler nutzen die Natur nicht anders, als wir es als Gesellschaft tun. Die Natur hat sich unseren Bedürfnissen unterzuordnen, sie wird als Ware vermarktet und liefert die Grundlage für unsere Existenz. Und sie kann durchaus auch für ein intensives emotionales Erleben genutzt werden und der Befriedigung narzisstischer Bedürfnisse dienen.

Die Fragen stellten Katrin Brenner-Becker und Eva-Maria Träger.

Dr. Manfred Ruoß ist Psychologischer Psychotherapeut und selbst seit mehr als 30 Jahren Bergsteiger. Sein Buch Zwischen Flow und Narzissmus. Die Psychologie des Bergsteigens ist 2017 in zweiter, überarbeiteter Auflage bei Hogrefe erschienen

Mehr zur Auseinandersetzung von Extremsportlern mit Natur finden Sie in diesem Beitrag.

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute Compact 54: Natur & Psyche
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