Die Abwehr aufgeben

Das Buch „Gefühle sind keine Krankheit“ fordert uns dazu auf, auch unangenehmen Emotionen ins Gesicht zu blicken.

Es mag ein Phänomen und Zeichen unserer Zeit sein, formulieren Christian ­Peter Dogs und seine Koautorin Nina ­Poelchau: Wir bewerten heute jedes von der Norm abweichende Gefühl sehr schnell als Krankheit: Trauer, Angst oder Wut – wir wollen diese Gefühle nicht haben.

Dahinter machen die Autoren eine fundamentale Angst vor Gefühlen aus: Angst vor der Angst, Angst vor der Wut und Angst vor dem Wechselspiel des Lebens. Nach der Lektüre hat der Leser erfahren: Unsere Gefühle sind der größte Schatz unseres Lebens, sie machen uns zu Menschen, nicht zu Maschinen. Vorausgesetzt, wir schaffen es, uns wie ein Surfer in die Wellen des Lebens zu werfen. Wenn wir die Abwehr gegen die Emotionen aufgäben, so die Autoren, fänden wir Halt.

Der Autor, selbst Therapeut, empört sich über seine Zunft

Dogs selbst ist kein Unbekannter in der Therapeutenszene: Der heutige Direktor der Max-Grundig-Klinik Bühlerhöhe und ehemalige Klinikleiter der Panorama-Fachkliniken in Scheidegg im Allgäu gilt als Rebell und hält mit seiner Kritik an seiner Zunft selten zurück.

Wenn er den Therapeuten und die Klinik der Zukunft reflektiert, stellt Dogs Forderungen auf, die er in seiner Klinik selbst umgesetzt hat: die Verkürzung der Aufnahmedauer auf fünf Wochen, freie Therapeutenwahl sowie Transparenz hinsichtlich der Behandlungserfolge. Daneben kritisiert er gekünsteltes, unempathisches Therapeutenverhalten und Psychologen ohne jegliche Lebenserfahrung.

Über Vergangenes nachzugrübeln lohnt nicht

Dogs und Poelchau ist ein kluges Buch über den Weg zu einer gesunden Psyche gelungen, das auch eine Art therapeutische Bilanz geworden ist. Es gibt dem Leser unterwegs viel Wissenswertes an die Hand, wie ein seelisch gesundes Leben glücken kann – und was es braucht, um zu innerer Stabilität zu gelangen („runter vom Gas“, „Beziehungen pflegen“, „Mut“). Eines wird dabei aus Sicht des Therapeuten überdeutlich: Keinesfalls ist es wirksam, ewig über Vergangenes nachzugrübeln oder sich zu bemühen, das eigene Leben und das der Ahnen in allen Verschlingungen zu verstehen. Denn, so Dogs: Das Negative verfestige sich nur, je länger wir uns mit ihm beschäftigten. Man kann die alte Geschichte jedoch mit neuen Gedanken und Erlebnissen überschreiben.

Eine Stärke des Buches ist, dass Dogs nicht von oben herab doziert, sondern seine eigene katastrophale Kindheit als Ausgangspunkt seiner Reflexionen nimmt: Dogs ist der Sohn eines der ersten Leiter einer psychosomatischen Klinik in Deutschland – und erlebte keineswegs Liebe und Geborgenheit, sondern Verwahrlosung, Schläge und rauschmittelabhängige Eltern. Dogs verbrachte Zeit im Kinderheim, lebte streckenweise auf der Straße und konsumierte eine Zeitlang harte Drogen. Durch die Aufmerksamkeit wohlmeinender Menschen fand er auf den Weg zurück und in seine heutige Position, in der ihm seine Lebenserfahrung nützt.

Auch wenn dies kein Ratgeber zum Umgang mit Gefühlen ist, wie der Titel suggerieren könnte, ist Dogs ein substanzielles Buch gelungen, witzig, scharf und immer erfahrungsgesättigt, das an den heilen Kern in jedem Menschen glaubt – und damit ein psychologischer Mutmacher von berufener Seite ist: lesenswert für Patienten und Therapeuten.

Christian Peter Dogs, Nina Poelchau: Gefühle sind keine Krankheit. Warum wir sie brauchen und wie sie uns zufrieden machen. Ullstein, Berlin 2017, 231 S., € 20,–

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 12/2018: Der Ex-Faktor
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