Das Thema Neugier beschäftigt die Menschheit seit Adam und Eva, seit nämlich Letztere unbedingt einen Apfel vom Baum der Erkenntnis essen wollte. Doch erst in jüngster Zeit hat die Wissenschaft begonnen, sich mit der Neugier genauer zu befassen – und ihre Vorzüge zu erkennen:
1 Langeweile vertreiben
„Das Heilmittel gegen Langeweile ist Neugier. Gegen Neugier gibt es kein Heilmittel.“ Ob das, wie kolportiert, die Schriftstellerin Dorothy Parker oder jemand anders gesagt hat, ist unklar. Klar ist, dass die Feststellung ins Schwarze trifft. Neugier kann selbst langweilige Aufgaben interessant machen. Der amerikanische Psychologe Todd Kashdan erzählt von einem Mann, dessen Arbeit darin bestand, Kartoffelchips auszusortieren, die nicht perfekt geformt waren. Er machte aus dieser stumpfsinnigen Aufgabe ein Spiel, indem er neugierig erkundete, was sonst noch in den Chips stecken könnte. So sammelte er Exemplare, die Prominenten ähnelten (etwa den Silhouetten von Elvis Presley oder Marilyn Monroe). Neugier trägt zu unserer Unterhaltung bei. Was macht Geschichten, ob in Büchern, Film oder Fernsehen, so interessant? Fast immer ist es die Neugier, wie es weitergeht, die uns bei der Stange hält. Deshalb bauen Erzähler am Ende des Kapitels oder der TV-Serienfolge gern eine überraschende Wendung oder einen Cliffhanger ein.
2 Den Horizont weiten
Neugier ist die treibende Kraft bei Innovation, Wissenschaft und Fortschritt. Einstein stellte sicher sein Licht unter den Scheffel, als er erklärte: „Ich habe keine besondere Begabung, sondern bin nur leidenschaftlich neugierig.“ Gleichwohl ist Wissensdurst etwas, das Erfinder und Entdecker ausmacht. Kashdan und sein Kollege Paul Silvia definieren Neugier als „Erkennen und Verfolgen neuer, herausfordernder und ungewisser Ereignisse sowie intensives Verlangen, diese zu erforschen“. Die Psychologin Susan Engel spricht vom „Drang, mehr zu wissen“. Kleinkinder krabbeln und laufen herum, erkunden Ecken und Winkel und stecken alles in den Mund. Dann lernen sie sprechen und damit auch zu fragen. Die W-Fragen (wer, was, wo, wie, wann) „gehören zu den wirkungsvollsten Werkzeugen, die ein Kind hat, um mehr über die Welt herauszufinden“, sagt Susan Engel. Damit erschließen sie sich das Wissen der Erwachsenen. Vor allem aber fragen Kinder immer wieder: „Warum?“ „Soweit wir wissen“, so Engel, „sind Menschen die einzige Spezies, die Erklärungen sucht.“
3 Das Gedächtnis stärken
Wissensdurst hilft uns zu lernen. Außerdem behalten wir das Gelernte besser im Gedächtnis, wenn wir neugierig sind. Der Neurowissenschaftler Matthias Gruber und sein Team stellten ihren Probanden Quizfragen. Gleichzeitig sollten sie angeben, wie sehr sie jeweils die Antwort interessierte. Waren sie besonders neugierig, so prägte sich das Wissen besser ein und war 24 Stunden später besser abrufbar. Außerdem bekamen die Teilnehmer jedes Mal, während sie auf eine Antwort warteten, ein Foto von einem Gesicht gezeigt. An dieses konnten sie sich am Tag drauf besser erinnern, wenn sie die entsprechende Quizfrage sehr interessiert hatte. Neugier, meint Gruber, sei vielleicht „wie ein Strudel, der das, was man motiviert ist zu lernen, einsaugt und auch alles darum herum“.
4 IQ und Noten verbessern
Dass neugieriges Verhalten mit dem IQ zusammenhängt, ergab eine Studie des britischen Psychologen Adrian Raine. Kinder, die mit drei Jahren besonders offen waren und ausgiebig ihre Umgebung erforschten, wiesen im Alter von elf Jahren einen um zwölf Punkte höheren Intelligenzquotienten auf und konnten besser lesen als solche, bei denen diese Verhaltensweisen nur schwach ausgeprägt waren. Raine erklärt sich das so: „Kleine Kinder, die aktiv etwas über ihre Umwelt lernen, indem sie ihren Eltern Fragen stellen und ihre Mutter verlassen, um ihre Umgebung zu erkunden, schaffen sich eine reichhaltige und herausfordernde Umwelt.“ Auch wer keine Intelligenzbestie ist, profitiert schulisch von Neugier. Allen und Adele Gottfried leiten die Fullerton Longitudinal Study, die 1979 begann und bis heute andauert. Sie haben beobachtet, dass nicht allein Intelligenz ausschlaggebend ist für schulische Leistungen. Sie identifizierten eine zweite Gruppe starker Schüler: diejenigen, die „motivationsbegabt“ waren, also Freude am Lernen hatten, weil sie neugierig waren.
5 Den Kontakt fördern
Auch unser Privatleben profitiert von einer neugierigen Haltung. Wie Todd Kashdan in Studien feststellte, können Menschen, die von Natur aus neugieriger sind, in Gesprächen schneller Nähe herstellen und wirken attraktiver. Sie machen Unterhaltungen lebendiger, indem sie Fragen stellen, also Interesse zeigen, und sich bemühen, witzig und geistreich zu sein. Japanische Forscher entdeckten, dass neugierige Menschen die kleinen Zurückweisungen im Alltag, denen wir alle ausgesetzt sind, besser wegstecken. Weil sie die Unsicherheit, die bei sozialen Kontakten oft mit im Spiel ist, besser aushalten können, neigen solche Personen weniger zu Schwarz-Weiß-Denken, erklärt Kashdan. Sogar in ihren Ehen sind Neugierige zufriedener – denn auch am Partner entdecken sie vieles, was sich zu erkunden lohnt.
6 Angst ausblenden
Wir können unsere Ängste nicht beliebig herunterschrauben. Doch wir können sie über den Neugierregler dimmen, meint Todd Kashdan und nennt als Beleg eine Studie von Ellen Langer: Sie ließ Studenten unvorbereitet Vorträge vor Publikum halten. Gruppe 1 wurde ermahnt, bloß keine Fehler zu machen. Gruppe 2 erfuhr, dass Fehler in Ordnung seien. Gruppe 3 wurde instruiert, solche Fehler in die Rede einzubauen. Am wohlsten fühlten sich die Teilnehmer in Gruppe 3. Sie wurden auch als selbstsicherer, kreativer und intelligenter eingeschätzt. Die Vorgabe, Fehler zu nutzen, hatte sie wohl in eine angstabweisende „Offen für Neues“-Haltung versetzt.
Literatur
Mario Livio: Why? What makes us curious. Simon & Schuster, New York 2017
Todd Kashdan: Curious? Discover the missing ingredient to a fulfilling life. William Morrow, New York 2009