Frau Kollak, im Vorwort Ihres Buches schreiben Sie, „dass sich das Schicksal anderer Menschen leichter ertragen lässt als das eigene“. Was bedeutet das für Menschen, die unter Depressionen leiden?
Hartnäckig halten sich Vorstellungen, Menschen mit Depression sollten sich einfach etwas mehr zusammenreißen oder könnten doch ihre Krankheit besser kreativ wenden. Häufig wird unterstellt, es handle sich bei Depressionen gar nicht um eine „richtige Erkrankung“. Die Ursachen für Depression sind vielfältig, die Therapien oft einseitig und zu wenig individuell abgestimmt. Bei gleichzeitiger Zunahme der Diagnose ergibt sich daraus eine unübersichtliche Situation. Sicher ist aber: Menschen mit Depressionen benötigen professionelle Hilfe und müssen zum Umgang mit ihrer Krankheit befähigt werden.
Was versteht man unter „komplementären Therapien“?
Der Begriff bezeichnet alle nichtmedikamentösen Therapien, die auch in der nationalen Versorgungsleitlinie zur Behandlung von Depression genannt werden. Diese in Fachgruppen entwickelte Leitlinie ist dazu gedacht, Therapeutinnen und Therapeuten in ihrer Arbeit zu unterstützen. Nach diesen Leitlinien beginnt eine Behandlung mit einer sorgfältigen Diagnostik. Darauf folgen Psychoedukation und/oder eine psychologische Therapie.
Diese werden unterstützt durch komplementäre Therapien. Genannt werden die bewegungsbasierten Interventionen Sport, Yoga, Qigong, Tai-Chi. Eine medikamentöse Therapie ist bei schweren Krankheitsverläufen angezeigt. Einnahmedauer und Dosierung sind eng definiert. In der Praxis werden jedoch auch viele Psychopharmaka privat verschrieben oder sind übers Internet erhältlich.
Ein Kapitel in Ihrem Buch widmet sich dem Thema „Alleinerziehende Mütter und Depressionen“. Sind alleinerziehende Mütter und Väter einem höheren Risiko für eine Depression ausgesetzt?
Ergebnisse aktueller Studien bejahen diese Frage. Die in diesen Untersuchungen befragten alleinerziehenden Mütter schätzten ihre Gesundheit im Vergleich zu Müttern in Partnerschaften als schlechter ein, und sie litten doppelt so häufig unter Depressionen und Angststörungen. Die Studien verweisen darauf, dass sich die sozioökonomische Lage für Alleinerziehende über Jahrzehnte verschlechtert hat und sie ein deutlich höheres Risiko haben, an Depressionen zu erkranken.
Gibt es eine einfache Form der Selbstsorge, die Menschen mit einer depressiven Erkrankung helfen kann?
Die langjährigen Erfahrungen der medizinischen, psychologischen und komplementären Behandlung von Menschen mit Depression haben gezeigt, dass es nicht die eine Methode der Wahl gibt: weder das ideale Medikament noch die bestmögliche Psychotherapie oder die klassische Bewegungs- und Entspannungstherapie. Aber in Gesprächen mit Betroffenen gibt es oft einen Moment, in dem sie sagen: „Und selbst wenn nichts mehr ging, habe ich noch…“ – und dann werden Tätigkeiten beschrieben: den Hund ausgeführt, einen Spaziergang gemacht, mich zum Sport geschleppt.
Genau darum geht es: Herauszufinden, was Menschen auch dann noch tun, wenn ihnen Sinn und Freude an allem völlig abhandengekommen ist. Diese letzte Energie zu fördern hilft weiter. Eigene Untersuchungen haben gute Erfolge mit Yogaübungen gezeigt, vor allem führen gut angeleitete Meditationen zur Sammlung und Beruhigung.
Ingrid Kollak ist Professorin für Pflegewissenschaft und Vorsitzende des Berliner Instituts für gesundheitliche Arbeit.
Ingrid Kollaks Buch Komplementäre Therapien bei Depression. Fallgeschichten und Möglichkeiten der Selbstsorge ist bei Hogrefe erschienen (208 S., € 35,–)