In der Frühphase der Coronapandemie hatte die Weltgesundheitsorganisation vor der Möglichkeit gewarnt, das Tragen von Gesichtsmasken könne „ein falsches Gefühl von Sicherheit“ vermitteln, so dass die Träger womöglich „andere essenzielle Maßnahmen wie etwa die Handhygiene vernachlässigen“. Die WHO fürchtete einen psychologischen Effekt, der unter der Bezeichnung „Risikokompensation“ seit den 1970er Jahren diskutiert wird. Er besagt, dass Menschen leichtsinniger werden, sobald ein bestimmtes Risiko abnimmt, und dessen Schwund „kompensieren“, indem sie ein anderes Risiko erhöhen: Wer ausgiebig gejoggt hat, gönnt sich eine deftige Mahlzeit. Wer beim Radfahren einen Helm trägt, erlaubt sich einen riskanteren Fahrstil.
Ob das allerdings immer so stimmt, ist die Frage. Dass die Einführung einer Helmpflicht zu mehr und schwereren Fahrradunfällen führt, wird in der Forschung inzwischen bezweifelt. Und auch die Furcht, der Mund-Nasen-Schutz mache die Menschen sorglos, stellt sich nun als unbegründet heraus. Ein Forscherteam aus Cambridge und London wertete 22 Untersuchungen zu diesem Thema aus, darunter sechs experimentelle Studien in mehr als 2000 Haushalten. Das Ergebnis: Nachdem sie sich das Maskentragen angewöhnt hatten, vernachlässigten die Probanden keineswegs das Händewaschen – laut zwei der Studien intensivierten sie es sogar.
Ob das auch fürs Abstandhalten gilt, wurde in den Arbeiten zwar nicht untersucht. Doch drei Beobachtungsstudien kamen zu dem Ergebnis, dass andere eher zurückwichen, wenn sie einem Maskenträger begegneten – das Gegenteil von einem Kompensationseffekt. Theresa Marteau und ihre britischen Mitforscher plädieren nun dafür, gleich die ganze Theorie von der Risikokompensation zu beerdigen. Sie bringe mehr Schaden als Nutzen, indem sie notwendige Schritte zum Gesundheitsschutz verzögere.
DOI: 10.1136/bmj.m2913