Entpathologisierung des Suizids

Der Autor Thomas Macho befasst sich mit dem Suizid in der Moderne.

In Deutschland haben sich trotz mittlerweile abnehmender Suizidrate 2015 mehr Menschen selbst das Leben genommen als durch Mord, Verkehrsunfälle, Drogen und Aids zusammengenommen gestorben sind. Für das Jahr 2015 zählt die Statistik insgesamt 10 083 bekannte Suizidfälle – die hohe Dunkelziffer bleibt dabei unberücksichtigt. Nach Angaben der Deutschen Schmerzliga sind darunter etwa 3000 Menschen (also etwa ein Drittel der Suizidtoten), die sich wegen starker Schmerzen das Leben genommen haben – plus einer nicht genau ermittelbaren Zahl von Personen, die wegen anderer unheilbarer Krankheiten ihrem Leben ein Ende gesetzt haben.

„So erscheint der Selbstmord als die Quintessenz der Moderne“, schrieb Walter Benjamin in seinem Passagen-Werk. Er unterstrich diese Einschätzung dadurch, dass er sich 1940 selbst tötete, aus Angst, in die Hand der Gestapo zu fallen – auch solche Ängste können ein Weiterleben unerträglich machen. Thomas Macho, Direktor des Internationalen Forscherzentrums Kulturwissenschaften in Wien, schreibt in seiner breitangelegten und überaus lesenswerten Studie Das Leben nehmen. Suizid in der Moderne: „Die Frage nach dem Suizid ist ein Leitmotiv der Moderne, das als solches bisher erst wenig erforscht wurde.“ Er registriert eine schier unaufhaltsame Karriere dieses beständig an Bedeutung gewinnenden Leitbildes. Sie ist mehreren Prozessen ideologischer Relativierung geschuldet, als da sind: „Schritte der Entheroisierung, der Entmoralisierung, der Entkriminalisierung und zuletzt der Entpathologisierung des Suizids. So galt der Suizid schon im Mittelalter nicht mehr wie in der Antike als ehrenvolle Heldentat, sondern als schwere Sünde; ab dem 16. und 17. Jahrhundert wurde die Sündhaftigkeit des Suizids allmählich infrage gestellt, und im 18. Jahrhundert – spätestens seit 1751, dem Edikt Friedrich II. zur Abschaffung der Suizidbestrafung in Preußen – begann die allmähliche Entkriminalisierung des Suizids.“ Seine völlige „Entpathologisierung“ sei allerdings eine weitgehend noch zu bewältigende Aufgabe des 21. Jahrhunderts.

Berühmte Doppelsuizide, etwa der von Karl Marx’ Schwiegersohn Paul Lafargue und seiner Frau Laura am 26. November 1911 oder, fast ein Jahrhundert später, der von André und Dorine Gorz am 22. September 2007 (wozu Gorz einen sehr bewegenden öffentlichen Abschiedsbrief, Brief an D., verfasst hat), spielen in der öffentlichen Meinungsbildung sicherlich eine bedeutende Rolle. Macho spricht hierzu von einem „Gestaltwandel des Liebestodes“: „Noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren es vorwiegend junge Paare, die aufgrund wirtschaftlicher Not, ungewollter Schwangerschaft oder elterlicher Ablehnung ihrer Beziehung den Weg in den gemeinsamen Suizid antraten, vielleicht auch inspiriert von romantischen Vorbildern, wie sie Bühnen, Kinoleinwände oder Romane bevölkerten. Heute sind es dagegen alte Paare, die sich – oft nach jahrzehntelanger Partnerschaft – das Leben nehmen, aus Angst vor einem allzu langen Leben, das womöglich in Krankheit, Behinderung und Schmerzen verbracht werden muss, vor allem aber aus Angst, den geliebten Menschen zu überleben.“

Macho entwirft in seinem gut recherchierten Buch ein breitangelegtes Panorama, diskutiert sowohl die literarischen als auch die philosophischen Erörterungen des Themas Suizid in der Moderne, wobei ich es sehr gelungen finde, dass er dabei auch heute weitgehend vergessene, von eigener Hand gestorbene Philosophen wie Philipp Mainländer (1841–1876) oder Alfred Seidel (1895 – 1924) zu Wort kommen lässt. Auch die Darstellung des Suizids im Film wird ausführlich, manchmal sogar etwas zu ausführlich, geschildert. Ein Thema fehlt allerdings in Machos gut lesbarem Buch, das für alle an diesem düsteren Thema Interessierte eine gewinnbringende Lektüre darstellt: Der sogenannte „erweiterte Selbstmord“, also die Handlung jener Suizidenten, die noch andere Personen töten. Offen gesagt – ich war nicht böse darüber, denn sonst hätte ich bei Macho auch den Namen meines Vaters Gert Bastian lesen müssen, der vor 25 Jahren seine Lebensgefährtin Petra Kelly und anschließend sich selbst tötete.

Till Bastian

Thomas Macho: Das ­Leben nehmen. Suizid in der Moderne. Suhrkamp, Berlin 2017, 531 S., € 28,–

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 4/2018: Die Kunst der Zuversicht
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