Autismus, Aspergersyndrom, Autismus-Spektrum-Störung – es gibt verschiedene Begriffe für diese immer stärker ins öffentliche Bewusstsein gelangende Verhaltensauffälligkeit, zu der in den letzten Monaten mehrere neue Bücher erschienen sind.
Ist es wirklich eine Krankheit oder doch eher ein soziale Erwartungen störendes Verhalten? Das ist eine der zentralen Fragen, um die die hier vorgestellten vier Neuerscheinungen kreisen. Alle sind von Betroffenen verfasst. Das verleiht den Texten nicht nur sachliche Anschaulichkeit, sondern auch Überzeugungskraft.
In einigen Fragen sind sich alle Autoren einig. Zum einen, dass es nicht den Autismus gibt, sondern viele sehr verschiedene autistische Menschen. Ein zentraler Punkt ist zudem, dass das, was nichtautistische Menschen als das Symptom der Störung erleben, für die Betroffenen selbst nur Ausdrucksform einer spezifischen Wahrnehmung ist, auf die sie subjektiv betrachtet völlig angemessen reagieren. Autismus ist in dieser Betrachtungsweise eine spezifische, mitunter extreme, aber nicht pathologische Ausprägung der Tatsache, dass Menschen die Wirklichkeit generell unterschiedlich erleben. Folgerichtig grenzen sich drei der Autoren – außer der Ärztin Christine Preißmann – entschieden von einer Pathologisierung autistischer Störungen ab.
Silke Lipinski konzentriert sich in ihrem Selbsthilfebüchlein Autismus auf Erwachsene, die mit Störungen aus dem Autismusspektrum leben. Ihren Forschungsergebnissen zufolge sind die erwachsenen Autisten – im Gegensatz zu jugendlichen – therapeutisch schlecht versorgt. Ziel ihres Buches ist, autistische Menschen zu ermutigen, sich selbst kennenzulernen, und ihnen Strategien für die Bewältigung ihres Alltags an die Hand zu geben.
Besondere Wahrnehmung
Aufschlussreich sind hier zum Beispiel Hinweise auf Unterstützungsmöglichkeiten wie etwa soziale Kompetenzgruppen, in denen autistische Menschen in einem geschützten Rahmen Erfahrungen teilen und Verhaltensweisen ausprobieren können. In solchen Passagen kommt, wie letztlich in allen vier Büchern, eindringlich zum Ausdruck, dass autistisches Erleben und Verhalten vor allem dadurch zum Problem wird, dass es Konflikte im sozialen Umfeld auslöst.
Christine Preißmann, die sich als Ärztin auf Autismus-Spektrum-Störungen spezialisiert hat, erzählt in Mit Autismus leben – ausholend bis in die Kindheit und Schulzeit – präzis und ehrlich von den Belastungen und Einschränkungen, die sie durch ihre Symptome bis heute erlebt und akzeptieren muss. Sie beschreibt einige der vielen Wahrnehmungsbesonderheiten, die den Alltag von Menschen mit Autismusstörungen zum Hindernislauf machen: wie viele Missverständnisse und Fehlurteile sich zum Beispiel daraus ergeben, dass autistische Menschen Sprache meist nur wörtlich verstehen und keinen Blickkontakt halten können, oft motorisch eingeschränkt sind und fast immer extrem reizempfindlich.
Der unaufgeregte, narrative Stil dieser Autorin macht wissenschaftliche Informationen ebenso leicht zugänglich wie die tägliche Not, in die der für sie fremde, oft bedrohliche Alltag Menschen mit Autismusstörung versetzt. Jedes Kapitel enthält detailliert ausgearbeitete „Strategien, Wege und mögliche Lösungen“. Preißmann will Betroffene ermutigen und zudem Fachpersonal, Lehrern, Ärzten, Vorgesetzten und anderen Hinweise geben, wie das Zusammenleben mit autistischen Menschen reibungsloser und wertschätzender gestaltet werden kann.
Ein ähnliches Anliegen verfolgt, bezogen speziell auf den schulischen Kontext, Gee Veros facettenreiche Studie Das andere Kind in der Schule. Ausgangspunkt und Motor ihres Buches ist die Erfahrung, dass Autisten in vielen Fällen nicht genug Aufmerksamkeit und Unterstützung bekommen, weil man ihnen ihre Beeinträchtigung – anders als bei einem Rollstuhlfahrer oder einem Blinden –nicht ansieht. Das bedeutet: Wer mit Autisten in Kontakt treten will, der muss sich aktiv für deren fremdartige Wahrnehmung interessieren. Es braucht viel Geduld, Offenheit, Kreativität und, ja, Liebe, um eine Brücke zu bauen, auf der sich autistische und nicht-autistische Menschen begegnen können. Ein Kraftakt für alle Beteiligten.
Zu wenig Empathie gegenüber Betroffenen
Der erste Teil des Buches beschäftigt sich mit den Hintergründen des Erlebens autistischer Menschen allgemein – im zweiten Teil fokussiert sich die Autorin auf den schulischen Bereich. Vom autistischen Arbeitsplatz über Klassenarbeiten bis zur Feueralarmübung gibt es nichts, was sie nicht in den Blick nimmt.
Ein Maximum an Erfahrung und Positionierung findet sich in Peter Schmidts Aus dem Rahmen gefallen. Von Beruf Geophysiker, fordert auch er entlang einer Fülle von anschaulich präsentierten autobiografischen Erlebnissen mehr Verständnis und Akzeptanz für autistische Menschen: Dass Autisten fehlende Empathie vorgeworfen wird, sei im Grunde nicht fair. Fehle es doch umgekehrt „den Normalen“ ebenso an Empathie für autistische Personen. Dabei verleugnet Schmidt die Kompliziertheit des Kontakts mit Autisten nicht. Vor allem die Passagen über die Beziehungen zu seiner Frau und seinen Kindern sind hier von berührender Offenheit.
Mit seinen autobiografischen Texten Ein Kaktus zum Valentinstag und Der Junge vom Saturn hat der Autor bereits zwei erfolgreiche belletristische Bücher zum Thema Autismus veröffentlicht. Mit seiner Lust an eigenwilligen Formulierungen und Geschichten vermittelt er einen lebendigen Einblick in die Dynamik und die Poesie autistisch geprägter Erlebniswelten.
Die vier Bücher richten sich ausdrücklich an von Autismus Betroffene. Sie spiegeln zugleich aufschlussreich vermeintlich selbstverständliche Wahrheiten und die tatsächliche Begrenztheit unserer sozial vereinbarten Welt.
Silke Lipinski: Autismus. Das Selbsthilfebuch. Balance, Köln 2020, 118 S., € 17,–
Christine Preißmann: Mit Autismus leben. Eine Ermutigung. Klett-Cotta, Stuttgart 2020, 191 S., € 19,–
Gee Vero: Das andere Kind in der Schule. Autismus im Klassenzimmer. Kohlhammer, Stuttgart 2020, 270 S., € 28,–
Peter Schmidt: Aus dem Rahmen gefallen. Praktische Autismuskunde von einem, der es wissen muss. Patmos, Ostfildern 2020, 261 S., € 22,–