Ich, narzisstisch?

Sind wir alle narzisstisch? Die Psychologin Katharina Ohana hat ein kühnes Buch über die narzisstische Gesellschaft geschrieben.

Narzissten sind für uns meistens andere. Die Frage, wie wir uns gegen sie abgrenzen und wie wir sie erkennen, füllt ganze Regalmeter mit Ratgeberliteratur. Doch klinische Erhebungen bestätigen die Flut pathologischer Narzisstinnen und Narzissten nicht. Eine narzisstische Persönlichkeitsstörung haben nur circa fünf Prozent der Bevölkerung, in der aktuellen Fassung des Diagnose­handbuches ICD wurde das Störungsbild sogar gestrichen.

Die Psychologin Katharina Ohana setzt an solchen Widersprüchen an und stellt eine mutige These auf: Anhand von psychologischen Befunden und psychosozialen Entwicklungen belegt sie, dass wir in einer narzisstischen Gesellschaft leben, in der eine Tendenz zu Gier, Größenfantasien und mangelnder Empathie überall gefördert wird.

So seien die kapitalistische Konsumkultur, die Tendenz zur Selbstoptimierung und die Rücksichtslosigkeit gegenüber der Umwelt ein idealer Nährboden für eine unreflektiert narzisstische Haltung. „Unsere gesamte westliche Kultur baut auf sehr unreifen Formen der Selbstaufwertung auf“, schreibt Ohana. Gesellschaftliche Werte wirkten einer reiferen Form von Narzissmus entgegen.

Wie wir zu reifen Narzissten und Narzisstinnen werden

Die Unterscheidung zwischen einem reifen und unreifen Narzissmus ist der Autorin wichtig: Weil narzisstische Impulse zu der Grundausstattung jedes Menschen gehören, wir alle Alltagsnarzisstinnen und Alltagsnarzissten sind und es auch bleiben dürfen, stellt sich eher die Frage, wie wir zu reiferen Formen der Selbstaufwertung kommen.

Beziehungserfahrungen, in denen wir uns von anderen berühren lassen, helfen uns laut Ohana dabei, von einer allzu egozentrischen Sicht Abstand zu nehmen. Die individuellen Reifungsprozesse sind ein erster Schritt. Doch bräuchten wir auch ein gesellschaftliches Umdenken. Ohana entlarvt sieben gesellschaftlich geteilte „Selbstlügen“, die unreife Selbstaufwertung aufrechterhalten: So sei etwa die Idee, dass der technische Fortschritt allein die Umwelt retten werde, heillos anmaßend. Angebrachter sei, die Kränkung anzunehmen, dass wir nicht durch geniale Erfindungen, sondern nur durch Umdenken und eine freiwillige Selbstbeschränkung den Planeten werden retten können.

Immer wieder wechselt Ohana zwischen einer Analyse der gesellschaftlichen Faktoren und einer psychologischen Sichtweise. Das ist eine große Stärke des Buches, liefert viele neue Denk- und Lösungsansätze. An mehreren Stellen ist sich der Text allerdings zu sicher in der Analyse großer Zusammenhänge. Wenn die Autorin zum Beispiel schreibt, dass wir von der Regierung bewusst zu mehr persönlicher Optimierung manipuliert würden, verallgemeinert sie stark.

Und wenn Ohana erklärt, dass die Psychoanalyse die einzig langfristig wirksame Therapieform sei, ist das ebenfalls eine verzerrte Sicht. Trotz der zu starken Generalisierungen ist das Buch lesenswert. Und ein willkommener Gegenpol zu den vielen Titeln, die ausschließlich andere als Narzissten sehen – und nie uns alle.

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2023: Alles fühlen, was da ist
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