Pflanzliche Lebensvorgänge werden zur Zeit intensiv beforscht und in der populärwissenschaftlichen Literatur auch für Laien verständlich und spannend erklärt. Pausenlos werden neue Fähigkeiten von Pflanzen entdeckt, die ihnen niemand zugetraut hatte. Man weiß bereits, dass nicht nur Bäume raffinierte Kommunikationskünstler sind, Umweltsignale aufnehmen, deuten und beantworten können, sondern auch ein äußerst aktives Familien- und Sozialleben führen, indem sie Gemeinschaften mit anderen Lebewesen eingehen. Sie reagieren auf Musik, können riechen und sogar Feinde verjagen. Aber seit Aristoteles über das vegetative Seelenvermögen nachsann, hat die Philosophie die Pflanzen sträflich vernachlässigt. „Die Pflanzen sind die immer offene Wunde der metaphysischen Arroganz, die unsere Kultur definiert“, prangert Emanuele Coccia, in Paris lehrender Philosophieprofessor, „unseren tierischen Chauvinismus“ an. Dass selbst die Biowissenschaften Pflanzenwahrheiten vernachlässigen, hat einen banalen Grund: „Als Tiere identifizieren wir uns sehr viel unmittelbarer mit anderen Tieren als mit Pflanzen.“
Dabei wären wir ohne Pflanzen gar nicht da. „Die Welt ist vor allem das, was die Pflanzen daraus zu machen wussten“, schreibt Coccia. „Sie sind die eigentlichen Macher unserer Welt, wenngleich dieses Machen sich von jeder anderen Aktivität des Lebendigen klar unterscheidet.“ Über ihre Fähigkeit zur Photosynthese haben Pflanzen den Sauerstoff in der Erdatmosphäre überhaupt erst erzeugt.
Leidenschaft für Pflanzen
Nur dank der Pflanzen können Tierorganismen die zum Überleben nötige Energie produzieren, nur die Pflanzen lassen uns atmen. Im Werden und Vergehen der Pflanzen, nicht im Urknall oder der brodelnden Ursuppe entstehe unsere Welt, skizziert Coccia seine Philosophie. Diese liest sich ungeheuer spannend. Auch wenn Coccia in seiner Obsession für die Blätter, die die Welt bedeuten, hin und wieder ein bisschen über sein Ziel hinausschießt, tut das der Faszination, die von seinen Gedanken ausgeht, keinen Abbruch. Ihm gebührt das Verdienst, den Pflanzen den ihnen zustehenden Platz als Welterschaffer und -former in unserem Denken zurückzugeben.
Ganz nebenbei bringt Coccia auch noch die herkömmliche Basis evolutionärer biologischer Denkungsart ins Wanken: den Glauben an die Priorität des Milieus vor dem Lebendigen. Wer sich wem anpasst, scheint in dieser Perspektive klar: das Leben der Welt. Pflanzen könnten jedoch den Vorgang bezeugen, „dass die Lebewesen das Milieu, in dem sie leben, selbst hervorbringen und nicht gezwungen sind, sich ihm anzupassen“. Damit ist der Anpassungsdruck nicht aus der Welt, aber relativiert. Doch das ist eben nur eine Betrachtungsweise. Pflanzen erinnern uns daran, wie jedes Ding mit jedem und jede Wahrheit mit einer anderen Wahrheit verbunden ist.
Emanuele Coccia: Die Wurzeln der Welt. Eine Philosophie der Pflanzen. Aus dem Französischen von Elsbeth Ranke. Carl Hanser, München 2018, 188 S., € 20,–