„Ganz nah am Puls der Natur“

​Die Psychologin Uta Maria Jürgens über unser Verhältnis zu Vögeln und anderen Wildtieren.

Das Foto zeigt eine Krähe im Flug als eine Art von Wildtieren, die eher unbeliebt ist
Manche Wildtiere scheinen uns näher als andere. Die Krähe ist ein eher unbeliebter Vogel. © Getty

Frau Jürgens, Sie forschen zu der Beziehung zwischen Mensch und Wildtier. Welche Fragen interessieren Sie dabei besonders?

Mich beschäftigt das Verhältnis zwischen Menschen und potenziell problematischen Wildtieren, exemplarisch Wölfe, Rabenvögel und Spinnen. Ich frage mich, wie es dazu kommt, dass diese Tiere uns emotional so ansprechen – und warum das Verhältnis so ambivalent ist. Es haben ja nicht alle Menschen Probleme mit diesen Tieren, es gibt auch regelrechte ­Romantisierungen.

Welche Erkenntnisse haben Sie bisher gewonnen?

Es spielen dabei natürlich ganz konkrete Fragen eine Rolle, beispielsweise ob wir uns vor Wölfen schützen müssen. Aber darunter existiert auch eine Tiefendimension des Mensch-Wildtier-Verhältnisses: Diese Tiere sprechen das Reich unserer Gedanken und Gefühle an, und in dem, was sie auslösen, zeigen sich auch ganz allgemein unsere Wertehaltungen gegenüber der Natur.

Ein Teil von uns fühlt sich aus der Natur herausgehoben und durch einen Sonderstatus ausgezeichnet. Andere verstehen sich als einen Teil von Natur. Diese zwei Positionen laden die konkreten Konflikte mit den Tieren auf, weshalb die Debatten, die wir in diesem Zusammenhang gesellschaftlich führen, teils auch so heftig sind. Es geht eben oftmals nicht um die Tiere, sondern um nicht explizit werdende Werte und Einstellungen, die weit darüber hinausgehen. Die Tiere dienen dann als Symbole, um diese tieferen Gedanken und Gefühle zu verhandeln.

Welche Konflikte treten in unserer Beziehung zu Wildtieren insbesondere auf?

In Bezug auf den Wolf haben wir es einerseits mit konkreten Ängsten zu tun – ob wir unsere Kinder im Wald spielen lassen können zum Beispiel. Andererseits spielen subtilere Ängste eine Rolle, also etwa die Frage nach unserer Kontrolle über die Natur. Einige Menschen würden sich diese wünschen, andere eher nicht. Da geht es dann darum, ob ich mich in einer Situation bedroht fühle, in der ich nicht die volle Kontrolle darüber haben kann, was mir geschieht – wo ich etwa den Wolf durch meinen Hinterhof schleichen lassen muss und nichts dagegen tun kann.

Andererseits haben viele Menschen Angst um die Natur und fragen sich, ob wir den Artenschwund aufhalten können und ob wir uns damit selbst die Lebensgrundlage nehmen. Da wirkt es erleichternd, wenn diese Tiere uns zeigen, dass sie der menschlichen Zerstörungswut einen gewissen Widerstand entgegenzusetzen haben.

Was ist der Unterschied zu unserem Umgang mit Haustieren?

Haustiere werden eher als zum Menschen gehörig angesehen, weil sie von uns gezüchtet wurden, in menschlicher Obhut stehen und einen teils sehr persönlichen Bezug zu uns haben. Bei ihnen sind wir eher geneigt, sie als Individuen zu sehen. Wildtiere sind für uns häufiger eine anonyme Masse.

Vögel sind auch Wildtiere, haben aber im Allgemeinen ein gutes Image. Wie kommt das?

Ihre relative Ungefährlichkeit ist vermutlich ein Faktor. Zudem stoßen ihr oftmals sehr schönes Äußeres und der Gesang der Singvögel bei uns auf ästhetische Wertschätzung, und diese Sympathie übertragen wir auf die Gesamtgruppe, also Vögel im Allgemeinen. Vögel können wir zudem sehr leicht beobachten. Sie gehören zu unserer Umgebung ja praktisch dazu. Viele Arten sind Kulturfolger, die unsere Nähe wegen der Nistmöglichkeiten und Nahrung suchen. Weil sie uns so sympathisch und nahe sind, sind auch sie Tiere, die wir eher als zu uns gehörig empfinden.

Hinzu kommt noch unsere große Faszination für ihre doch sehr andere Lebensform: Vögel können fliegen. Damit verkörpern sie eine Leichtigkeit und Freiheit, die wir uns manchmal für uns wünschen und dann stellvertretend in ihnen miterleben können.

Beobachten deshalb viele Menschen so gerne Vögel?

Ja, sicher. Vögel sind aber auch so attraktive Beobachtungsobjekte, weil sie relativ wenig scheu sind, man sie also viel sehen kann. Sie sind einfach da und sehen gut aus. Zudem können wir ihr Sozialverhalten sehr gut lesen, der emotionale Bezug ist viel direkter.

Das Beobachten, Bestimmen und Zählen hat zudem ein gewisses Moment von Kontrolle, im Sinne von Verstehen, intellektuellem Aneignen, Durchdringen dessen, was passiert – es geht dabei auch darum, ganz nah am Puls der Natur, der Wildnis zu sein. Man hat sehr direkt und strukturierend Anteil am Leben der Vögel und dadurch an dem, wofür sie stehen.

Ich sehe darin auch eine große Sehnsucht nach Natur: Man erfreut sich daran, wie viel in unserer unmittelbaren Umgebung zu sehen ist, wie sehr wir mit Natur verbunden und räumlich vernetzt sind.

Unsere nächsten Nachbarn sind eben meistens nicht die Menschen nebenan, sondern die Vögel im Nest vor dem ­Fenster.

Es gibt nur wenige Vögel, die wir nicht so mögen, Tauben etwa – und Krähen beziehungsweise Rabenvögel. Wie kommen die Abneigungen zustande?

Das verbreitete negative Image der Rabenvögel kommt meines Erachtens daher, dass sie einfach nicht so anschmiegsam sind. Obwohl sie zu den Singvögeln zählen, muten ihre Klänge eher wie Lärm an. Wir haben das grundsätzliche Gefühl, dass sie irgendwie böse sind – groß, schwarz, potenziell bedrohlich –, nicht so hübsch, freundlich, wunderbar singend wie die anderen Vögel, mit denen wir uns so identifizieren.

Rabenvögel und Menschen haben zudem eine sehr lange gemeinsame Geschichte. Als Aasfresser – daher ja der Begriff „Galgenvögel“ – verweisen sie uns auf den Tod und unsere Sterblichkeit. Das hat, glaube ich, auch etwas damit zu tun, dass wir bei ihnen ein gewisses Gruseln empfinden.

Sie sind aber auch sehr intelligent und führen uns dadurch auf gewitzte Weise vor Augen, dass wir womöglich nicht die einzigen sind, die denkend durch diese Welt gehen. Das kratzt vielleicht ein bisschen an unserem Image, Krone der Schöpfung und Souverän in der Natur zu sein. Möglicherweise fühlen sich deshalb einige unterschwellig provoziert.

Vogelbeobachter schätzen häufig alle Tiere, die sich ihnen zeigen, gleichermaßen. Was ist bei ihnen anders?

Menschen, die sich als Teil der Natur verstehen, haben weniger Schwierigkeiten damit, auf ein Tier Rücksicht zu nehmen. Wenn der Wolf zurückkommt oder die Saatkrähen vor dem Fenster brüten, wird das von ihnen eher in einem positiven Sinne angenommen, als Zeichen dafür, wie menschliche und natürliche Sphäre einander durchdringen und dass Mensch und Natur im Grunde eins sind.

Hobbys in der Natur sind angesagt, Imkern zum Beispiel. Ist das Ausdruck einer steigenden Naturliebe – oder geht es da auch um eine Form von Kontrolle?

Ich glaube, das kann man nicht trennen. Für mich sind das auch keine Gegensätze. Es gibt ganz verschiedene Arten, sich mit Natur zu befassen, nicht die eine richtige. Derjenige, der friedlich im Gras sitzt und Vögel beobachtet, kann ebenso sehr oder ebenso wenig Naturfreund sein wie der Jäger auf seinem Hochsitz. Ich denke, das Spektrum an Arten, wie wir uns mit Natur beschäftigen und sie genießen, ist so breit wie das Spektrum an menschlichen Persönlichkeitstypen. Was die verschiedenen Naturfreunde eint, ist möglicherweise die Sehnsucht danach, wieder mehr Fühlung zu den nichtmenschlichen Sphären zu bekommen.

Uta Maria Jürgens studierte Psychologie, Ethologie und Umweltwissenschaften an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und der Yale School of Forestry Environmental Studies. Sie ist Doktorandin an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich und forscht, gefördert von der Deutschen-Wildtier-Stiftung, über die „Psycho-Logik“ des Verhältnisses des Menschen zu sogenannten Problemtieren.

Mehr zum Reiz des Vogelbeobachtens finden Sie in diesem Beitrag.

Artikel zum Thema
Menschen schauen sich seit jeher gerne wilde Tiere an. Dafür braucht es Gitter – was uns vielfältige Gefühle beschert. Über die Psychologie des Zoos.
​Warum beobachten wir gerne Vögel? Annäherung an ein beflügelndes Hobby.
Psychologie nach Zahlen: Vier Landschaftstypen und wie sie die Persönlichkeit der Menschen formen, die dort aufwachsen.
Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute Compact 54: Natur & Psyche
Anzeige
Psychologie Heute Compact 79: Das Leben aufräumen