Im berühmten Stanford-Gefängnisexperiment aus dem Jahr 1971 misshandelten einige Wärter die Gefangenen auf brutale Weise. Die Macht der Situation sei dafür ausschlaggebend gewesen, meint der heute 85 Jahre alte Psychologe Philip Zimbardo, der das Experiment damals verantwortete und organisierte. Diese Interpretation stellen der Psychologe Alexander Haslam und Kollegen von der University of Queensland schon seit längerem infrage. Jetzt führen sie in einem noch nicht von Fachkollegen begutachteten Aufsatz einen neuen Angriff auf Zimbardo. Der weist die Argumente weiterhin zurück.
Versuchsgefängnis in der Stanford-Universität
Zimbardo ließ für sein Experiment ein äußerst realistisches Pseudo-Gefängnis in einem Keller der Stanford-Universität Stanford bauen. Sein Ziel war es, wie er auf seiner Website zum Stanford Gefängnisexperiment mitteilt, die Verhältnisse in damaligen US-Gefängnissen zu simulieren. Die Versuchspersonen waren Studenten. Einige wurden nach dem Zufallsprinzip zu Gefangenen gemacht und von der echten Polizei zuhause abgeholt. Die anderen wurden zu Wärtern ernannt und erhielten Uniformen. Bald kam es zu Übergriffen. Wärter ließen Gefangene zur Strafe Liegestütze machen, ein Wärter trat ihnen dabei mit dem Fuß auf den Rücken. Die Wärter spritzten mit Feuerlöschern eisiges Kohlendioxid in die Zellen, ließen Gefangene nackt und ohne Betten schlafen oder Toilettenschüsseln mit bloßen Händen reinigen.
Wurden die Gefängniswärter gezielt angestachelt?
Zimbardo führt die Exzesse auf die Situation zurück: Es genüge, jemand in die Rolle eines Wärters zu bringen, schon verhalte er sich wie einer – in vielen Fällen auch brutal. Haslam und seine Kollegen haben jetzt Originalaufnahmen ausgewertet, die seit kurzem online zur Verfügung stehen und kommen zu einem anderen Schluss: Der Forscher Zimbardo und ein Kollege, die das Versuchsgefängnis leiteten, hätten die Wärter gezielt angestachelt. Die Kritiker illustrieren ihre Vorwürfe am Beispiel von David Jaffe. Der heutige Medizinprofessor agierte seinerzeit als studentischer Forscher und als eine Art Oberaufseher. Demnach briefte Jaffe die Wärter: Sie sollten die Gefangenen endlos warten lassen, sie herumkommandieren und überhaupt tough auftreten. Wie ein erst jetzt zugängliches Protokoll zeigt, versuchte Jaffe außerdem einen renitenten Aufseher unter vier Augen dazu zu bringen, als „harter Wärter“ zu agieren. Dabei setzte Jaffe nach Meinung von Haslam auf eine Methode, die Haslam identity leadership nennt. Bei dieser Führungstechnik versuchen Führende, die Geführten davon zu überzeugen, dass sie eigentlich gleiche Interessen hätten. Jaffe tat das, indem er permanent von „denen“ redete – den Gefangenen, und von „uns“ – den Wärtern. Außerdem hätten sie doch alle die gleichen Gegner: Das gegenwärtige Gefängnissystem und „die Schweine“, die sie entlarven wollten.
Die Gefangenen revoltierten
Zimbardo weist solche Erklärungsversuche für die Brutalität zurück. Einen Wärter aufzufordern, „standhaft“ und „mit von der Partie“ zu sein, sei damals geradezu milde gewesen – verglichen mit den Zuständen in den echten Gefängnissen dieser Zeit. Dort hätten Wärtern Disziplinarmaßnahmen bis zur Kündigung gedroht, wenn sie nicht mitzogen. Außerdem hätten die Misshandlungen nicht direkt nach den Ermahnungen der Wächter begonnen, sondern erst nach einer Revolte der Gefangenen. Haslam und seine Kollegen ziehen zwar die Deutung von Zimbardos Team in Zweifel, behaupten aber nicht, dass ihre eigene Erklärung beweisbar sei. Und an einem kommen sie nicht vorbei: Zimbardos Mannschaft tat nichts, was nicht reale Gefängnisleitungen auch hätten tun können. Und Gewalt war sogar ausdrücklich verboten. Trotzdem eskalierte die Situation.
Das Stanford-Gefängnisexperiment (deutsch) http://www.prisonexp.org/german/
S. Alexander Haslam, Stephen D. Reicher, & Jay J. Van Bevel: Rethinking the ‘nature’ of brutality: Uncovering the role of identity leadership in the Stanford Prison Experiment. https://psyarxiv.com/b7crx/
http://www.prisonexp.org/response