Digitale Leibeigenschaft?

Sind wir digitale Leibeigene? Und wir kommen wir da im Zweifelsfall wieder heraus? Dies diskutieren Buchautoren aus unterschiedlichen Perspektiven.

„Gib mir dein Firmenhandy. Das macht jetzt auch Urlaub, bei mir im Schreibtisch!“, sagte Anitra Eggler, damals Chefin einer Agentur, zu ihrem besten Mitarbeiter, der sich nicht von seinem Gerät trennen konnte. „Er sah mich an wie ein Alien.“ Sie habe noch nie jemanden gesehen, den die Dienstanweisung, im Urlaub nicht zu arbeiten, so unglücklich gemacht hat. „Er gab das Handy ab. Ich legte es in die Schreibtischschublade. Als ich zurück an meinen Schreibtisch kam, war das Handy weg. Ein Zettel klebte in der Schublade: ‚Ich bin ein Idiot, aber ich kann nicht anders!‘“

Als sie ihren Mitarbeiter als „fremdbestimmten Smartphone-Sklaven“ erlebte, hielt er ihr den Spiegel vor.

Unterhaltsam beschreibt Eggler ihr Leben als Pionierin der Gründerzeit des Internets, die erst 20 Jahre zurückliegt. „Ich mochte dieses Tempo. Es entsprach meiner Lebensart. Ich war einfach nur euphorisch und mit ungebremstem Internet-Enthusiasmus ganz vorne bei der Weltrevolution dabei.“ Nach dem Börsencrash, einem kurzen Rückzug und erfolgreichen Neustart in Führungspositionen ist sie ausgestiegen, hat nachgedacht und recherchiert. Sie ist aber nicht zur Internetverweigerin konvertiert. Sie beschreibt sich als „Digitaltherapeutin“, weist jedoch darauf hin, dass dieser Begriff eine ironische Wortschöpfung sei, er deute keinen professionellen Hintergrund an.

Wie es ist, digitaler Leibeigener zu sein

Mit Witz, Detailwissen und mit der Glaubwürdigkeit einer Insiderin berichtet sie lebensnah aus der Zeit ihrer „digitalen Leibeigenschaft“. Dabei appelliert sie an den kritischen Menschenverstand, zeigt, wie man sicherer digital unterwegs sein kann, und weist auf die Gefahren für die Gesellschaft hin, wenn wenige Monopole die digitale Welt beherrschen. Wer jetzt nicht kritisch frage, setze alles aufs Spiel, seine persönliche Freiheit und die Demokratie insgesamt. „Es ist sieben nach zwölf, und es geht um alles. Dramatischer vermag ich das nicht zu formulieren.“ Die Politik sei schon machtlos, die Exekutive hilflos, die Gesetzgebung immer zu spät, der Qualitätsjournalismus kurz vor dem Aussterben. „Nur Eric Schmidt, Mark Zuckerberg, Jeff Bezos und Tim Cook stricken entspannt an der Weltherrschaft, während sie im Tesla auf ihre Waldorfkinder warten.“

Die Autorin argumentiert klug. Sie verteufelt das Netz nicht, sondern liefert in ihrem Weckruf Information, Motivation und Möglichkeiten der digitalen Entgiftung und Entwöhnung sowie der Nachsorge – Bausteine, die man auch aus den Konzepten der Suchttherapie kennt.

„Ich liebe das Internet.“ Mit diesem Satz beginnt Gina Schad, Jahrgang 1984, ihr Buch über eine mögliche digitale Verrohung. Die Medienwissenschaftlerin bedauert, dass die Gesellschaft die Risiken des Digitalen überbetone. „Es wäre eher angebracht, der Technik eine Liebeserklärung zu machen, anstatt sie zu verteufeln.“ Dieses Bekenntnis lässt kaum kritische Distanz zu dem Medium erwarten.

Würden wir im wahren Leben auch so handeln?

In sieben Kapiteln referiert sie „eigene Beobachtungen und Einschätzungen“. Zusätzlich interviewt sie Netzaktivisten, Journalisten und Experten. Die Frage der „digitalen Verrohung“, die schon im Titel – allerdings mit einem Fragezeichen – angeschnitten wird, wird mehrmals aufgegriffen, hin- und hergewendet, aber nicht entschieden. Interessante Fragen – wie zum Beispiel: „Woher kommt die Impulsivität, die sich in Hassreden und Empörungsstürmen entlädt? Würden Menschen im wahren Leben auch so agieren?“ – werden nicht gestellt. Die Überlegungen gipfeln in der Behauptung: „Die Vernetzung führt jedoch nicht dazu, dass Nutzer im Internet verrohen, das Gegenteil ist der Fall.“ Es gebe viele Beispiele von Mitgefühl im Netz.

Unkritisch wird eine Umdeutung des Begriffes von „Privatheit“ vorbereitet, wenn sie fragt: „Können wir überhaupt noch von Privatheit sprechen, oder müssen wir Privatheit neu denken?“ Das passt gut in das Ausspähsystem der Internetmonopolisten, die den Markt ausgehebelt haben. Deren Gebaren wird nicht untersucht. Für Datenschutz und Privatsphäre seien die Nutzer selbst verantwortlich. Lesenswert ist das Kapitel über die Strategien zur Deeskalation einer aus dem Ruder laufenden Kommunikation. Insgesamt bringt das Buch jedoch kaum Erkenntnisgewinn.

Die Internetbegeisterung von Gina Schad und vielen ihrer Generation hinterfragt Andreas Bernard. Der Kulturwissenschaftler analysiert, wie es kommt, dass Geräte und Methoden, die etwa Geheimdienste zur Ausforschung einsetzten, heute als Mittel zur Selbstermächtigung begrüßt würden. Die Erforschung dieses Mentalitätswandels steht im Zentrum seiner Untersuchung.

Übers Smartphone jeden finden

Die Ortungsfunktion des Smartphones etwa gehe auf die Militär- und Kriminaltechnik zurück. Sie wurde hierzulande vor einem Jahrzehnt populär, als man die elektronische Fußfessel einführte. Die Ortung von Individuen erscheine heute als „unerlässliche Voraussetzung für geschäftliche Transaktionen, Gesellschaftsspiele oder die Anbahnung von Liebesbeziehungen“.

Eine ähnliche Entwicklung zeichnet er anhand der Begriffs- und Funktionsgeschichte des „Profils“ nach, das heute das zentrale Darstellungsformat der ­Facebooknutzer ist. Das Profil sei ursprünglich entstanden als „psychiatrisches Profil“ von Internierten oder als Täterprofil von Mördern. „Das Profil ist von einem Instrument der Disziplinierung zu einem Verfahren der Selbstdarstellung geworden.“

Dieser Mentalitätswandel werde besonders deutlich, wenn wir uns erinnern, dass sich noch vor 30 Jahren eine der größten Protestbewegungen der Republik gegen eine Volkszählung formieren konnte. Damals wurden weit weniger Daten abgefragt, als heute jedes Mitglied auf Facebook bei der Erstellung seines „Profils“ freiwillig preisgibt.

Dieses Buch kann unser Verhältnis zur digitalen Technik verändern, es klärt auf und schafft Distanz. Es fordert den Leser heraus, ist jedoch auch für Laien verständlich formuliert.

Zu wenig berücksichtigt wird von allen drei Autoren, dass es sich bei unserem Umgang mit dem Internet noch um ein relativ neues Phänomen handelt. Ob der Mentalitätswandel anhält, ist noch nicht ausgemacht.

Anitra Eggler: Mail halten! Die beste Selbstverteidigung gegen Handy-Terror, E-Mail-Wahnsinn & digitale Dauerablenkung. ­Campus, Frankfurt 2017, 350 S., € 19,95

Gina Schad: Digitale Verrohung? Was die Kommunikation im Netz mit unserem Mitgefühl macht. Goldmann, München 2017, 284 S., € 12,99

Andreas Bernard: Komplizen des Erkennungsdienstes. Das Selbst in der digitalen Kultur. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2017, 237 S., € 24,–

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 4/2018: Die Kunst der Zuversicht
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