Sie behaupten in Ihrem Buch, dass die Schwarze Pädagogik keineswegs verschwunden, sondern immer noch Teil der Lebensrealität sei. Wie kommen Sie zu dieser Annahme?
Blicken wir in die Lebenswelten von Kindern hinein, so sehen wir tagtäglich zahlreiche Macht- und Gewaltstrukturen, die der Erwachsene einerseits und pädagogische Institutionen andererseits auf das Kind ausüben. Kindeswohlgefährdungen in all ihren Schattierungen – physische Gewalt, psychische Gewalt, sexueller Missbrauch – sind Begleiter kindlichen Aufwachsens, die bis auf den heutigen Tag tabuisiert, verdeckt und verschleiert werden. Diesen Schleier etwas zu lüften und Licht in die dunklen Ecken kindlichen Aufwachsens zu bringen war und ist meine Intention.
Wurden Kinder in früheren Zeiten nicht stärker instrumentalisiert als heutzutage?
Es gibt Entwicklungen, die in der Tat sehr positiv sind. Zu denken wäre dabei beispielsweise an die Kinderrechte, an Schutz- und Schonräume für Kinder oder an pädagogische Angebote zur Unterstützung von kindlicher Autonomie und Selbstbestimmung. Sichtbare Gewalt wie etwa das Züchtigungsrecht des Vaters oder des Lehrers ist zwar durch juristische Verbote im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewichen. Allerdings wäre es eine allzu harmlose Annahme zu meinen, dass Formen von Gewalt damit auch faktisch aus der Haltung und Einstellung Erwachsener gegenüber Kindern getilgt worden wären.
Aktuell treten neue Formen von Normierung und Standardisierung in das Licht von Erziehung und Bildung, die es früher in diesem Ausmaß nicht gegeben hat und die ebenso als Form der Instrumentalisierung des Kindes bewertet werden müssen. Ich denke an dieser Stelle an die bunte Palette standardisierter Leistungsüberprüfungen, die nicht nur immer umfassender, um nicht zu sagen: totaler zu werden scheinen, sondern auch immer früher ansetzen: Spätestens schon vom Kindergarten an wird das Kind hinsichtlich seiner Leistung beobachtet, geprüft, getestet und gerankt.
Ist es nicht positiv zu bewerten, dass diese Kinder besonders gefördert werden?
Immer mehr schleichen sich Formen neoliberalen Denkens beinahe unmerklich auch in die Erziehungspraxis ein. Selbstoptimierung, Effektivität, Kompetenzzuwachs und Konkurrenzsicherheit zeichnen das „normale“ und das nicht von der statistisch ermittelten Norm abweichende Kind aus. Im gleichen Zuge – so meine These – droht damit und dadurch das Individuelle zugunsten des Normierten zu verschwinden, und „schwarze Einfärbungen“ hinsichtlich Unterdrückungs- und Fremdbestimmungsmechanismen treten erneut in das Licht pädagogischer Praktiken.
Sie beschreiben in Ihrem Buch Parallelen in der Behandlung von Kindern und Hunden. Wie kommen Sie zu dieser Analogie?
Die Analogie von Hund und Kind benutze ich zum einen aus einem historischen Grund. Es lässt sich nämlich zeigen, wie zeitgleich – im Verlaufe des 18. Jahrhunderts – die Domestizierung des Hundes als eines zu liebenden Haustieres mit der Erziehung des Kindes als eines zu schützenden Lebewesens einhergeht. Dass wir neuerdings Hunde sehen, die wie Babys auf der Brust getragen und in umfunktionierten Kinderwagen durch die Fußgängerzonen geschoben werden, ist eine befremdliche Weiterführung dieser Analogie. Zum anderen finde ich die Analogie – nicht minder befremdlich – bei der berühmten Reformpädagogin Maria Montessori, die just anhand des Hundegehorsams erläutert, wie man ein Kind zu Gehorsam, Disziplin und Normalität dressieren und erziehen soll.
Interview: Katrin Brenner
Sabine Seichters Buch Das „normale“ Kind. Einblicke in die Geschichte der schwarzen Pädagogik ist bei Beltz erschienen (189 S., € 24,95)
Sabine Seichter, Dr. phil. habil., ist ordentliche Universitätsprofessorin für allgemeine Erziehungswissenschaft an der Paris-Lodron Universität Salzburg. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Geschichte und Theorie von Erziehung und Bildung sowie historisch-kulturwissenschaftliche und personalistische Konzeptionen pädagogischer Anthropologie