In den großen Tageszeitungen stehen die Meldungen unter "Panorama" oder "Vermischtes". Ein typischer Fall: Schwalmstadt, Anfang Juni 2022. In einem Lebensmittelmarkt gibt es eine Schießerei. Das Gelände wird weiträumig abgesperrt, das Einsatzkommando findet zwei Tote, einen Mann und eine Frau. Die Frau wurde aus kurzer Entfernung erschossen, der Mann hat sich selbst getötet. Die Recherche ergibt, dass beide Anfang 2021 eine Beziehung begonnen hatten, die von der Frau zu Beginn des Jahres 2022 gelöst wurde. Der Mann wollte das nicht akzeptieren, er verfolgte die Frau mit Drohungen. Sie rief die Polizei, ein Kontaktverbot wurde ausgesprochen, das der Täter scheinbar ruhig hinnahm.
Wahrscheinlich hatte er da den Entschluss schon gefasst, sich zu rächen und zu töten.
Wir zögern in solchen Fällen zu Recht, der Frage nachzugehen, was das Opfer hätte tun können, um einen Täter mit diesem mörderischen Potenzial zur Vernunft zu bringen. Das könnte die Schuldfrage verzerren. Es ist ausgemachter Unsinn, von einer Mitschuld der Frau zu sprechen, die den Täter soweit gebracht hat. Für Gewalt, egal ob angedroht oder praktiziert, ist in einem zivilisierten Land die Polizei zuständig. Da Drohungen im Kontext von Liebesenttäuschungen sehr häufig ausgesprochen und vergleichsweise selten in die Tat umgesetzt werden, ist das von einem Gericht verhängte Kontaktverbot der Situation erst einmal angemessen.
Lebensrealität und mediale Darstellung gehen getrennte Wege. Drohungen sind sehr häufig, Tötungen sehr selten. Während die Drohung verhallt, wird über Morde berichtet. In der typischen Filmszene droht ein Mann, der seine Liebesniederlage nicht wahrhaben will. Die Cops wiegeln ab, weisen den Täter zurecht und lassen das zitternde Opfer im Stich. Während in der Realität die Justiz in fast allen Fällen recht behält, bewahrheitet sich im Kino die krasse Ausnahme. Der Drohung folgt die Tat, die Polizei wird im Erleben der Zuschauer zum Komplizen des Bösewichts.
Eine Argumentation über Schuld verrät den Hintergrund der Justiz: den Zwang zur Objektivität, uncharmant und kunstlos, aber klar in seiner Struktur und anthropologisch im Kontext der Kampf-Flucht-Reaktion verständlich. Wer eine Pistole mitbringt, trägt die Schuld an der Schießerei mit allen tödlichen Folgen. Aber sobald wir anfangen, komplizierte Interaktionen nachzuvollziehen und die Bedingungen untersuchen, unter denen eine gestörte und eingeengte Psyche ein wenig besser oder ein wenig schlechter funktioniert, wird die Rede von Schuld bedeutungslos, ihr Raster zu grob, um alle Handlungsmöglichkeiten zu verstehen.
Sie gehört mir noch immer
Beziehungen entgleisen, wenn wir sie als Supermarkt auffassen, in dem jeder für einen festen Preis einkaufen kann. Sie spielen sich in einer Welt ab, in der Kreativität gefragt ist und Menschen sich einigen - oder sich trennen.
Täter wie der in Schwalmstadt können nicht akzeptieren, dass Liebe ein flüchtiges Gefühl ist, das nur dann weiter existiert, wenn zwei Personen das ihre dazu tun. Sie erklären zu dauerhaftem Besitz, was in Wahrheit jede Minute wieder zurückgenommen werden kann und darf. Der Mord an der Geliebten, ein tragisches Motiv seit Othello und Desdemona, ist auch ein Versuch, sie für immer in Besitz zu nehmen. Sie hat mir gehört, sie gehört mir noch immer, sie ist mein Eigentum, und wenn in ihr ein Eigenleben ist, das mich verlassen will, dann ist es mein Recht, sie zu töten. Dann gehört sie ganz mir, aber weil ich dann ein Mörder bin, verdiene auch ich nicht, weiter zu leben.
Wenn Beziehungen dieses fanatische Stadium erreicht haben, ist es der Weg zurück zu Toleranz und Sensibilität kaum mehr zu finden. Niccolo Machiavelli, verglich konflikthafte Beziehungen mit Krankheiten: Wenn ein Leiden leicht zu erkennen ist, ist es in der Regel schwer zu kurieren; solange es aber leicht zu heilen wäre, lässt es sich schwer erkennen.
Das gilt besonders für Störungen in der Kommunikation von Paaren. Wenn die Störung offensichtlich ist, weil eine Seite die Beziehung nicht weiterführen will, ist es kaum mehr möglich, sich konstruktiv auszutauschen.
Gleichklang entsteht durch das Ausblenden aller unpassenden Frequenzen
So lange aber die Beziehung einigermaßen funktioniert, lässt sich der Bedarf nach Kommunikation über Störungen verleugnen. Wir lieben uns, also empfinden wir das Gleiche und dürfen unsere Liebe nicht durch die Einsicht stören, dass dieser Gleichklang nur durch Ausblenden aller unpassenden Frequenzen entsteht. Mal glauben das beide, mal hat eine Seite immer wieder versucht, Probleme anzusprechen, hatte aber keine Chance, Gehör zu finden. Ein Eheberater in den USA hat daraus einen Buchtitel gemacht: "Ich dachte, meine Ehe sei gut, bis meine Frau mir sagte, wie sie sich fühlt!"
Der Satz ist die milde (und häufige) Variante einer an sich sehr gefährlichen (aber dann doch seltenen) Dynamik: Ein von seinem Bild einer Beziehung starrsinnig überzeugter Mann behauptet, ihm sei genau das zugeschworen worden, was er sich gewünscht hat. Wenn die Geliebte nicht dazu stehe, dürfe er sie selbstverständlich mit Drohung und Gewalt zwingen, ihr Versprechen zu erfüllen.
Falsche Sicherheit
Es gibt ein Bild der Liebe, das darauf hinausläuft, Gefahren zu leugnen und so eine falsche Sicherheit herzustellen, die sich mit dem biblischen Koloss auf tönernen Füssen vergleichen lässt. Es ist besser, Konflikte anzusprechen, so lange Aggressionen noch durch erotische Anziehung und positive Bilder einer gemeinsamen Zukunft neutralisiert werden können. Wer nicht unangenehm überrascht werden möchte, sollte auf den ersten Blick attraktive, aber real unerfüllbare Liebesvorstellungen von Anfang an benennen und die Verleugnungen aufdecken, mit denen sie sich tarnen.
Einige Beispiele:
1. Ich liebe dich genau so, wie du mich liebst.
2. Wir sind füreinander bestimmt.
3. Wir bleiben für immer zusammen.
4. Für dich tue ich alles.
5. Ich kann ohne dich nicht leben.
Diese Illusionen sind mit dem Bild einer „großen“ Liebe verbunden. Wer sich ohne Zweifel und Selbstkritik die Fähigkeit zu dieser Liebes-Grandiosität zuschreibt, kann allen Egoismus leugnen und ein narzisstisch definiertes Bündnis selbsternannt verwalten. In seinen Projektionen wird der Unterschied zwischen Ich und Du zugleich aufgehoben und gespalten: ich tue alles für unsere Liebe, du aber hast kleinliche, egoistische Bedenken. Von diesem Punkt aus ist der Schritt, den zur Zweisamkeit aufgeblähten Narzissmus mit Gewalt durchzusetzen, nicht mehr weit.
Illusionen sind schön, aber verderblich
Die Illusionen der romantischen Liebe sind schön und wertvoll, aber sie werden von dem Augenblick an verderblich, in dem sie ihre spielerische, wärmende Qualität verlieren. Die Liebe ist ein Traum, der zum Albtraum wird, wenn wir den Moment verpassen, in dem es besser ist, aufzuwachen. Das ist der Punkt, an dem versucht wird, mit Drohung und Gewalt zu erzwingen, was nur geschenkt werden kann. Je früher diese riskante Veränderung benannt und bekämpft wird, desto weniger wird die Beziehung entgleisen. Wenn der nachdenklichere Teil eines leidenschaftlichen Beginns Erwartungen dämpft und Illusionen zum Thema macht, wachsen die Chancen, jenen totalen Absturz zu mäßigen, der aus einem kontaktschwachen Sonderling den entfesselten Rächer macht. Die Gefahr, dass auf einmal alles schlecht ist, wird dort am größten sein, wo sich der Wahn ungestört entfalten konnte, alles sei wunderbar und ein bisher verkümmertes Selbstgefühl für immer grandios.
Wer unsicher ist, ob seine Gefühle wirklich gut genug sind, lässt sich leichter manipulieren. Frauen geraten in Versuchung, sich die eigene Liebesfähigkeit zu beweisen, indem sie eklatante Lieblosigkeiten des Gegenübers wieder und wieder verzeihen und ihre Bedeutung ebenso leugnen wie den eigenen Schmerz. Das schadet nicht nur ihnen, sondern schwächt auch die Fähigkeit des männlichen Parts, mit Kränkungen umzugehen. Die in den Beziehungsmorden mobilisierte Aggression richtet sich gegen die Verweigerung einer Sicherheit, die es in der Liebe nicht gibt. Sie hängt mit einem Danaergeschenk der Kultur zusammen – dem Projekt Eigentum – und ist dem Animalischen fremd.
Wer die eigenen Grenzen bewacht und weder sich noch dem Gegenüber Lieblosigkeiten durchgehen lässt, schärft das Bewusstsein für die fragile Natur menschlicher Beziehungen. Liebe ist flüchtig und scheu, wer sie erzwingen will, verliert sie. Wer sich und seinen Liebsten das ganz klar macht, hat die besten Chancen, dass seine Beziehungen lange halten und er sich ihrer immer sicherer, - aber niemals ganz sicher wird.
Wolfgang Schmidbauer arbeitet als Autor, Psychoanalytiker und Paartherapeut in München. Sein jüngstes Buch: Du bist schuld! Die Paaranalyse des Vorwurfs. Stuttgart, Klett-Cotta 2020