Frau W. (39 Jahre) kommt zum Erstgespräch in meine Praxis. Unter Tränen berichtet sie, sie habe ihren Mann nach zehnjähriger Ehe wegen eines anderen verlassen. Ihren neuen Partner Manuel habe sie bei einer Kunstausstellung in seiner eigenen Galerie kennengelernt. Nach zwei Wochen habe sie ihrem Mann die Affäre mit Manuel gebeichtet. Für den Ehemann sei eine Welt zusammengebrochen. Manuel habe sie indessen angefleht, ihren Mann zu verlassen, sie sei seine große Liebe.
Die folgenden Wochen der Entscheidung waren für Frau W. die Hölle. Sie war hin- und hergerissen zwischen der tiefen Freundschaft, die sie mit ihrem Mann verband, und ihrer Leidenschaft für Manuel. Letztlich siegte die Leidenschaft, und sie zog zu Manuel. Frau W. berichtet weiter, dass Manuel sich einige Wochen nach ihrem Einzug verändert habe. Er habe extrem viel gearbeitet, sei oft reizbar und verschlossen gewesen. Auch habe sein Interesse an Sex plötzlich nachgelassen. Sie habe das Gefühl gehabt, dass er ihr immer mehr entgleite – als stünde plötzlich eine gläserne Mauer zwischen ihnen. Eines Abends habe Manuel verkündet, er könne so nicht mehr weitermachen, sie müssten sich trennen, er liebe sie nicht mehr.
Die tiefe Angst, versagt zu haben
Die Geschichte, die Frau W. erlebt hat, wird mir in vielen Varianten häufig von meinen Klienten berichtet. Ohne Manuel persönlich zu kennen, liegt für mich als Therapeutin die Vermutung nahe, dass er unter Bindungsangst leidet. Ein typisches Indiz dafür ist, dass er sich nach anfänglicher Leidenschaft krass distanzierte. Die Gefühle von bindungsängstlichen Menschen ändern sich abrupt, sobald eine Beziehung auf die nächste Stufe der Verbindlichkeit wechselt. Das war in diesem Fall der Einzug von Frau W. in Manuels Wohnung. Das Mehr an Verbindlichkeit erlebt der Bindungsängstliche wie einen Freiheitsverlust. Plötzlich fühlt er sich von den Erwartungen seines Partners erdrückt. Hierauf reagiert er mit Rückzug und Abschottung. Der Partner ist dadurch massiv verunsichert und gibt alles, um den anderen enger an sich zu binden. Dieser Kampf führt praktisch immer dazu, dass der Bindungsängstliche sich noch mehr zurückzieht. Ein Teufelskreis.
Frau W. geht es wie den meisten in ihrer Situation, sie hat das Gefühl, den Boden unter den Füßen verloren zu haben, weggeworfen und aussortiert worden zu sein. Hört man genauer hin, ist es jedoch nicht der Verlust des Partners, der Frau W. in den Abgrund zieht, sondern die tiefe Angst, versagt zu haben. Bin ich kein liebenswerter Mensch? Genüge ich nicht? Habe ich etwas falsch gemacht? Das Erlebte nagt auf einer ganz tiefen Ebene an ihrem Selbstwert.
Jeder Mensch hat ein tiefes Bedürfnis nach Anerkennung und Wertschätzung. Eine Abfuhr in Liebesdingen ist ein massiver Entzug von Wertschätzung. Man spricht in diesem Zusammenhang auch vom „gespiegelten Selbstwertempfinden“, das heißt, wir erfahren unseren Wert durch die Reaktionen anderer Menschen, die quasi wie ein Spiegel für uns fungieren. Unser Selbstwertgefühl wird wesentlich davon geprägt, wie man uns als Kinder behandelt und aufgenommen hat.
Verantwortung für den eigenen Anteil übernehmen
Natürlich hat die Dynamik zwischen Frau W., Manuel und ihrem Mann viele Facetten, die es im Verlauf weiterer therapeutischer Sitzungen aufzuarbeiten gilt. Und natürlich kann kein Therapeut die tiefe Wunde einer Zurückweisung einfach wegzaubern. Aber es gibt eine Intervention, die nicht nur bei Liebeskummer, sondern bei allen Selbstwertspiegel-Problematiken zu tiefer Erkenntnis verhelfen kann. Hierfür bitte ich Frau W., sich in die sogenannte Beobachterposition zu begeben. Sie soll also sich und Manuel vor ihrem inneren Auge von außen betrachten. Am besten so, dass sie und Manuel sich mit einigem Abstand gegenüberstehen. Als ihr das einigermaßen gelingt, bitte ich sie, zwischen die imaginierte Person ihrer selbst und jener von Manuel eine dicke Glaswand zu ziehen. Die Glaswand ist ein starkes Bild, das dabei hilft, sich aus einer persönlichen Verstrickung mit einer anderen Person zu lösen. Nun bitte ich sie, die Anteile aufzuzählen, die aufseiten Manuels dazu beigetragen haben, dass die Beziehung gescheitert ist. Sie sagt: „Er hat sich plötzlich zurückgezogen, ohne mir einen Grund zu nennen. Er hat nicht mit mir gesprochen. Er hat mir keine Chance gegeben!“
Nun frage ich sie, ob sie auch auf ihrer Seite Anteile wahrnimmt, und sie erklärt: „Ich war blind vor Leidenschaft und habe mich Hals über Kopf von meinem lieben, bodenständigen Mann getrennt, ohne Manuel wirklich zu kennen!“ Sie seufzt: „Oje, es tut gut, das mal so klar zu sehen!“
Nun bitte ich Frau W., die Verantwortung, die Manuel für das Scheitern der Beziehung hat, gedanklich bei ihm zu belassen und die Verantwortung für ihren eigenen Anteil zu übernehmen. Sie nickt zustimmend. Dann frage ich sie: „Was sagt Manuels Verhalten, also dass er sich verschlossen und dann Schluss gemacht hat, über Ihren Wert aus?“ Frau W. benötigt etwas Zeit für die Antwort – ich sehe, wie es in ihr arbeitet. Dann ruft sie aus: „Nichts!“ Wieder fließen die Tränen, diesmal vor Erleichterung. Sie erklärt: „Ich habe mich so gequält mit meinen Selbstzweifeln und Vorwürfen, aber wenn ich das alles mit diesem großen Abstand betrachte, stimmt es natürlich: Mein Wert ist vollkommen unabhängig von Manuels Verhalten!“
Frau W. kommt zu weiteren Sitzungen, in denen es um ihr Selbstwerterleben und die Beziehungsdynamik geht – und natürlich sind die Wunden, die Manuels Zurückweisung ihr zugefügt hat, nicht so schnell verheilt. Gleichwohl hat sie einen großen ersten Schritt zu der Erkenntnis vollbracht, dass ihr Wert sich nicht durch den Spiegel anderer Menschen bemessen lässt.
Stefanie Stahl ist Diplompsychologin und arbeitet in freier Praxis in Trier. Sie hält Seminare zu Bindungsangst, Liebe und Selbstwertgefühl. Sie schrieb die beiden Bestseller Das Kind in dir muss Heimat finden und Jeder ist beziehungsfähig, die bei Kailash erschienen sind