Der Türklinken-Moment

Die Therapiesitzung ist zu Ende. Beim Verlassen des Raums lässt der Patient noch eine Bombe platzen. Wie kann man als Therapeut richtig reagieren?

Ein Bücherstapel mit den Büchern, die in Ausgabe 4/2025 vorgestellt werden
Das ist der Bücherstapel der Rezensionen aus der Aprilausgabe 2025. © Psychologie Heute

„Übrigens“, beginnt die Patientin nach Abschluss der Sitzung auf dem Weg zur Tür des Behandlungsraums, „ich habe ganz vergessen, Ihnen das Schreck­lichste zu erzählen, das mir je passiert ist: Mein Onkel hat mich missbraucht, als ich zwölf Jahre alt war!“ Tränen treten in ihre Augen, sie schluchzt – und die Therapeutin ist in sich zerrissen. Sie hat schon ein wenig überzogen, hatte in dieser Sitzung den Eindruck gewonnen, dass die Einfälle der Patientin schal und oberflächlich waren. So wartete sie etwas länger als sonst, ehe sie das Signal zum Aufbruch gab. Und jetzt das! In fünf Minuten kommt der nächste Patient, eigentlich wollte sie vorher noch auf die Toilette – aber kann sie, darf sie pünktlich aufhören, den Onkel und die Tränen vertagen und verkünden: „Darüber sprechen wir nächste Woche um die gleiche Zeit“?

Sie darf, und es wird in der Regel nicht nur gut für ihre Erholung, sondern auch gut für die Patientin sein, erklärt Daniela V. Gitlin, die in einer Kleinstadt nahe New York als Psychiaterin und Psychoanalytikerin arbeitet. Ohne aufdringlich mit ihrem gesammelten Wissen zu prunken, hat Gitlin in ihrem Werk Doorknob Bombshells in Therapy. The Deadline, the Brain, and Why It Is Important to End on Time die psychoanalytische Literatur zu den Problemen des Beendens von Therapiesitzungen zusammengetragen.

Der Fluchtweg ist schon offen

Eine „Türklinkengranate“ ist so etwas wie ein Kompromiss: Es wird etwas gesagt, aber weil es zu einer Zeit gesagt wird, zu der die Sitzung eigentlich schon zu Ende ist, könnte es auch als ungesagt gelten. Diese Dynamik führt dazu, dass Türklinkengranaten besonders dort explodieren, wo schambesetzte Themen besprochen werden sollten.

Gitlin gelingt es, die komplexe Situation am Sitzungsende zu durchleuchten. Es handelt sich um eine Miniaturprokrastination: Wie beim Studenten, der seine Seminararbeit niemals fertig schreiben würde, hätte er keine Deadline, fühlt es sich für die Patientin während der normalen Sitzungsdauer nicht „richtig“ an, das schwierige Thema anzusprechen. Aber sie kann es ebenso wenig ganz fallenlassen. So ist es die einzige Möglichkeit, das Zwischenreich zu wählen, in dem die Analyse noch nicht ganz vorbei, aber der Fluchtweg schon offen ist.

Für die gemischte Botschaft der Türklinkengranate gibt es keine in jeder Situation anwendbare Lösung. Immerhin sind sich die von Gitlin zitierten Autorinnen und Autoren einig, dass der Therapeut nicht überziehen sollte, etwa nach dem Motto: Die Bedürfnisse der Patienten haben den Vorrang vor dem geordneten Praxisablauf. Dieses Vorgehen gäbe der weinenden Patientin zwar den Trost der Zuwendung, nähme ihr aber das Vertrauen in eine verlässliche und belastbare Struktur der therapeutischen Situation. Kreativität ist gefordert, um mit freundlichem Nachdruck die Explosion einzudämmen – und ihre Analyse in der nächsten, regulären Sitzung zu vereinbaren.

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Daniela V. Gitlin: Doorknob Bombshells in Therapy. The Deadline, the Brain, and Why It Is Important to End on Time. W.W. Norton 2024, 160 S., circa € 20,–

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