Das Heimkehrermotiv ist das älteste der westlichen Kultur. Nach zehn Jahren im Krieg vor Troja will Odysseus in seine Heimat, nach Ithaka zurückkehren. Dass sich die Gesänge der namenlosen Rhapsoden, die unter dem Arbeitstitel „Homer“ ins kollektive Gedächtnis eingegangen sind, über bald drei Jahrtausende erhalten haben, hängt nur nebenbei mit der Qualität des Stoffes als ein Abenteuerroman zusammen. Die Geschichte von Odysseus berichtet von einer Sehnsucht, die zu allen Zeiten die Menschen bewegt hat: vom Heimkehren, Ankommen – vom Sinnfinden.
Wer heute Sinn finden möchte, muss dafür zum Glück nicht mehr Zyklopen überlisten, Seeungeheuer bekämpfen und Göttinnen verführen.
Eine aufschlussreiche Reise
Wie die wichtigste Abenteuerreise des Lebens heute aussehen kann, zeigen die Psychologin Tatjana Schnell und Zeit-Autor Kilian Trotier in ihrem gemeinsam veröffentlichten Buch. Und dem merkt man an, dass hier eine renommierte Wissenschaftlerin und ein Schreibprofi am Werk waren: Sinn finden. Warum es gut ist, das Leben zu hinterfragen ist nicht nur aufschlussreich, sondern liest sich auch ausgesprochen unterhaltsam. Und die Dramaturgie folgt tatsächlich einem Reiseführer.
Die Etappen liegen allerdings nicht in mediterranen Gefilden, sondern in den weiten Ebenen der Forschung. Tatjana Schnell und Kilian Trotier widmen sich einer Bandbreite an Fragen: Was unterscheidet eigentlich Sinn und Glück? Unter welchen Umständen erleben Menschen ihr Leben als sinnvoll? Und ist Sinn per se gut? Dabei schlägt das Autorenduo spielerisch Brücken zwischen Ideengeschichte und dem aktuellen Diskurs. Die Namen von Philosophen wie Platon, Aristoteles, Heidegger oder Sartre treten in einem Atemzug auf mit Psychologen wie Frankl, Schwartz, Erikson, Bandura. Ausgewählte Studien, anschaulich erzählt, schließen den Kreis. Anekdoten, Interviews und Geschichten gelungener Sinnsuche lockern das angenehm leichtfüßige Sachbuch zusätzlich auf.
Sinn des Leben oder ein sinnerfülltes Leben?
Wer heute forscht, forscht in Zahlen. Und die bringen die Möglichkeit, größer zu werden, immer schon mit. So zeigt auch die Sinnforschung die Tendenz, den Sinn, diese conditio humana, der Logik von Verwertung und Optimierung preiszugeben. Hier wird allerdings nicht nach dem Sinn des Lebens gesucht, sondern untersucht, wann wir unser Leben als sinnerfüllt wahrnehmen – ein großer Unterschied. Im einen Fall mühen wir uns – ganz wie Odysseus – an den Widrigkeiten unserer Existenz ab, ohne zu wissen, ob wir jemals ans Ziel gelangen. Im anderen suchen wir nach allem, was uns ein Gefühl von Erfüllung vermittelt, und versuchen, mehr davon in unser Leben zu bringen. Statt einer großen Antwort auf eine große Frage führt der Weg also eher zum eigenen, dem individuellen Sinnchen. Dennoch: Auch die Reise dorthin ist aufschlussreich. Für sie lässt man sich von diesem gelungenen Reiseführer gern an die Hand nehmen.
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Tatjana Schnell, Kilian Trotier: Sinn finden. Warum es gut ist, das Leben zu hinterfragen. Ullstein 2024, 304 S., € 24,99