Es gibt kein Leben ohne Altern. Auch im hohen Lebensalter entwickeln wir uns ständig weiter und eignen uns neue Kompetenzen an, auch um mit zunehmenden körperlichen Einschränkungen im hohen Lebensalter umzugehen. Die Gerontologie hat in den letzten Jahrzehnten die kompetenten Alten eindrucksvoll erforscht und beschrieben.
Die Unterschiedlichkeit zwischen einzelnen Individuen ist niemals so groß wie im hohen Lebensalter. Dabei werden die körperlich bedingten Einschränkungen, die die letzte Lebensphase wesentlich bestimmen, nicht verleugnet. Es wird von einem dritten Lebensalter gesprochen, das mit dem Ausscheiden aus dem Berufsleben beginnt. Die Menschen in den Ländern westlicher Zivilisation dürfen zu diesem Zeitpunkt im Durchschnitt noch etwa 20 Lebensjahre bei relativ gutem Gesundheitszustand erwarten.
Dieser Zugewinn an auch qualitativ hochwertiger Lebenserwartung ist die größte zivilisatorische Errungenschaft des letzten Jahrhunderts in unseren Breitengraden. Das vierte Lebensalter beginnt dann etwa ab dem 85. Lebensjahr und wird ganz wesentlich vom Zustand des Körpers geprägt.
In der neuen, der 11. Version der ICD MMS (International Classification of Diseases for Mortality and Morbidity Statistics) der Weltgesundheitsorganisation spielt das Alter erstmals bei der Erfassung von Krankheiten eine Rolle. Mit den Zusatzcodes XT19 für „Frühes geriatrisches Alter“ (65 bis 84 Jahre) und XT13 für „Spätes geriatrisches Alter“ (ab 85 Jahre) soll das Lebensalter als Teil der Diagnose erfasst werden. Seit dem 1. Januar 2022 können die Mitgliedsstaaten der WHO ihre Mortalitätsdaten auch mit dieser neuen Verschlüsselung melden. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte arbeitet noch an der deutschen Version, die in den nächsten Jahren auch in Deutschland verbindlich in Kraft treten wird.
Munition für Kampf gegen das Alter
Die Erfassung von Krankheiten, von Mortalität und Morbidität hat hohe gesundheits- und gesellschaftspolitische Bedeutung. Als Beispiele seien hier die Homosexualität, die bis 1990 noch als Krankheit galt, und die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörungen genannt. Die letztgenannten wurden in die ICD-10 aufgenommen und damit offiziell als Erkrankung anerkannt, nachdem Psychopharmaka zu ihrer Behandlung entwickelt worden waren.
Wenn das Alter demnächst Teil der Krankheitsdiagnose wird, nährt das die Vorstellung, dass das Alter selbst eine Krankheit sei und seine Erscheinungen bekämpft werden müssten. Auf diese Weise wird eine Voraussetzung dafür geschaffen, eines Tages auch sogenannte Anti-Aging-Produkte in den Leistungskatalog der Sozialversicherungen aufzunehmen.
Damit einher geht eine Verleugnung der prinzipiellen Begrenztheit, Unverfügbarkeit und Vergänglichkeit des individuellen menschlichen Lebens. Allmachtsvorstellungen von unbegrenzter Beherrschung und Zerstörung der Natur werden auf diese Weise weiter gefördert. Erst die Anerkennung eigener Endlichkeit aber macht unser Leben so kostbar. Wäre das Leben unendlich und würden wir nicht altern, würde es seinen Wert verlieren.
Martin Teising ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Psychoanalytiker in freier Praxis. Die Psychodynamik lebenslangen Alterns ist einer seiner Forschungsschwerpunkte.