Warum weinen wir?

Psychologie nach Zahlen: Ein internationales Forschungsteam hat sieben Faktoren zusammengetragen, wann und warum wir in Tränen ausbrechen.

Die Illustration zeigt einen Mann und eine Frau die an zwei Turmfenstern stehen und weinen, während unter ihnen ein See aus Tränen ist
Zu nah am Wasser gebaut? Tränen haben je nach Situation unterschiedliche Bedeutungen und Ursachen. © Till Hafenbrak

Ob in Altbabylonien, im mittelalterlichen Japan oder im Europa der frühen Neuzeit: Das Weinen hatte im Laufe der Kulturgeschichte immer wieder einen guten Ruf. In solchen Epochen wurde das Entlastende an Tränen hervorgehoben: Weinen, so hieß es, könne individuelles Leid und Elend lindern. Dennoch weckte das Tränenvergießen nur selten das Interesse der Forschung. „Unser Verständnis des Weinens stammt nicht von den medizinischen oder psychologischen Wissenschaften, sondern von unzähligen Repräsentationen in der Dichtung, der Fiktion, dem Drama“, schrieb der amerikanische Autor Tom Lutz vor zwei Jahrzehnten in seinem Buch über die Natur- und Kulturgeschichte der Tränen.

Doch in den letzten Jahren ist auch das empirische Interesse am Weinen stark gewachsen: Die Zahl der wissenschaftlichen Studien ist so sehr gestiegen, dass es für die amerikanische Psychologin Lauren Bylsma von der University of Pittsburgh und ihre Mitforschenden aus den Niederlanden und Kroatien jetzt genug Daten für eine Metaanalyse gab. In dieser Untersuchung haben sie die sieben zentralen Faktoren zusammengetragen, die Einfluss darauf nehmen, wer, wann und warum in Tränen ausbricht.

1. Emotionale Situationen

Der Mensch weint hauptsächlich dann, wenn er eine nahestehende Person verloren hat oder von ihr räumlich getrennt ist. Heimweh, Scheidung, Todesfall – solche Verlusterfahrungen rühren die große Mehrheit zu Tränen. „Menschen weinen ebenfalls in Situationen, in denen sie nicht in der Lage sind, effektiv mit einem Problem umzugehen und es zu lösen“, berichtet das Forschungsteam. Die Hilflosigkeit und Ohnmacht treiben die Tränen in die Augen.

Sie sind häufig von weiteren Gefühlen begleitet, etwa Traurigkeit, Angst, Reue und Wut. Besonders häufig fließen die Tränen auch während einer Psychotherapie und sind gerade hier ein aufschlussreiches emotionales Signal. Aber auch Freude kann Grund zum Weinen sein. Wer positiv überwältigt ist, vermag das häufig nicht anders als durch Freudentränen zu artikulieren. Diese Tränen können außerdem ein „Ausdruck zärtlicher Gefühle sein“, so Lauren Bylsma.

2. Das Alter

In seiner Kindheit weint der Mensch meistens aus Schmerz oder Frust. Erst im Laufe der Jahre entwickeln wir die Fähigkeit, aus positiven Gründen zu weinen – etwa wenn wir Zeuge selbstloser Taten werden. Auch das Leid von Mitmenschen rührt generell eher Erwachsene als Kinder zu Tränen. „Einerseits empfindet man hier die Hilflosigkeit der anderen Person nach, andererseits fühlt man sich selbst hilflos, da man nichts ausrichten kann“, so die Forschenden. Dabei muss der oder die Leidtragende gar nicht unbedingt selbst weinen, um empathischen Mitmenschen Tränen zu entlocken.

3. Die Persönlichkeit

Empathische Personen schluchzen generell deutlich mehr als der Durchschnitt. Extravertierte und offene Menschen vergießen ebenfalls häufiger Tränen. Oft gehen sie in ihrem Alltag sogar bewusst Aktivitäten nach, die emotional berührend oder gar aufwühlend sind. Sie schauen sich etwa traurige Filme an, hören traurige Musik, lesen traurige Bücher.

Auch Menschen, die Bindungsängste haben, weinen häufiger als andere – sowohl aus Kummer als auch vor Freude. Beziehungsvermeidende Personen hingegen weinen seltener, aber wenn, dann meist vor Schmerz.

4. Das Geschlecht

Eine Studie in 37 Ländern kam zu dem Ergebnis, dass Frauen weitaus öfter weinen als Männer. Dabei vergießen die beiden Geschlechter im Kindesalter noch etwa gleich viele Tränen. „Das ändert sich etwa im Alter von elf Jahren“, so Bylsma und ihr Team. Im Erwachsenenalter herrschen große Unterschiede: Frauen schluchzen durch­schnittlich zwei- bis fünfmal pro Monat, Männer dagegen höchstens einmal. Allerdings gibt es hierfür wohl keine biologischen Ursachen – Frauen sind also nicht von Natur aus „näher am Wasser gebaut“.

Vielmehr ist der Geschlechterunterschied in kulturellen Vorstellungen und Normen verankert: In der Kindheit wird Jungen vermittelt, ihre Gefühle anders als durch Tränen auszudrücken; bei Mädchen wird Weinen stärker akzeptiert und dadurch gefördert. Womöglich halten Frauen, verglichen mit Männern, das Weinen auch deshalb eher für positiv und befreiend.

5. Der körperliche Zustand

Im Alltag kann eine schlechte körperliche Verfassung dazu führen, dass man scheinbar grundlos losweint. Wer erschöpft ist, hat sich selbst weniger gut im Griff als im ausgeruhten Zustand. Der Konsum von Alkohol und Drogen beeinflusst den Tränendrang ebenfalls. Körperliche und psychische Erkrankungen gehören wiederum zu den langfristigen Ursachen des Weinens, etwa chronische Schmerzen oder eine bipolare Störung.

6. Kultur

Menschen in Japan und anderen asiatischen Ländern scheinen weniger zu weinen als jene in den Vereinigten Staaten und den westlichen Nationen. Offensichtlich spielt also die Kultur eine Rolle. Tendenziell stellen die und der Einzelne im kollektivistisch geprägten Japan die eigenen Gefühle und Bedürfnisse zugunsten der Gemeinschaft zurück. In den USA hingegen lässt man seinen Tränen und Gefühlen eher freien Lauf.

7. Evolution

Aus evolutionspsychologischer Sicht soll sich das Weinen im Lauf der Entwicklungsgeschichte etabliert haben, damit der Mensch der Mitwelt seine Not signalisieren konnte: Tränen sichern relativ leicht und schnell das Eingreifen und die Unterstützung der anderen. Auf diese Weise sollen sie den einzelnen Menschen gerade in schwierigen Momenten vor der Isolation schützen – und einen schmerz­lindernden und sinnstiftenden Kontakt innerhalb der Gemeinschaft herstellen.

Quellen

Lauren M Bylsma u.a.: A clinical practice review of crying research. Psychotherapy: Theory, Research, Practice, Training, September 2020. DOI: 10.1037/pst0000342

Tom Lutz: Crying. The Natural and Cultural History of Tears. Norton, New York 2001

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 4/2021: Selbstwert wagen
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