Scheinbar vertraut

Der Historiker Malcolm Gladwell beschreibt in seinem Buch dramatische Fälle des Aneinandervorbeiredens.

Seinen ersten TED Talk widmete Malcolm Gladwell der Tomatensauce. Vielmehr: dem Abschied von der Idee, ein einziger Saucentyp könnte allen schmecken. Gladwells Sinn für das Sonderbare, das nur scheinbar Vertraute, zeigte sich schon damals ziemlich deutlich. Fast zwanzig Jahre später ist der Historiker und Journalist nicht nur Bestsellerautor – für die Time gehört er zu den hundert einflussreichsten Menschen der Gegenwart.

Auch wenn der Titel danach klingt: Die Kunst, nicht aneinander vorbeizureden ist kein Ratgeber. Sondern ein spannender Essay voller detailreicher Storys und Studien zu einigen ganz grundlegenden Fragen: Wie kann die Kommunikation mit Fremden gelingen? Warum scheitern wir so oft in derart dramatischer Weise und erkennen nicht, dass uns jemand mitten ins Gesicht lügt?

Auf dem Weg zur Antwort begleiten wir Neville Chamberlain, den englischen Premierminister, auf ein Treffen mit Adolf Hitler. Wir erleben einen erfahrenen Haftrichter, der eine falsche Entscheidung nach der anderen fällt, weil er nicht hinter die Fassaden derer blicken kann, die vor ihm sitzen. Und wir erforschen das Rätsel Bernard Madoff, New Yorker Investor und, so Gladwell, „größter Hochstapler aller Zeiten“.

In all den skizzierten Geschichten ließen sich selbst hochrangige Experten täuschen von Lügnern, Hochstaplern und Mördern. Warum? Weil es durchaus sinnvoll ist, davon auszugehen, dass der andere die Wahrheit sagt. Gladwell zitiert den Kommunikationswissenschaftler Tim Levine, der behauptet, dass wir im Laufe der Evolution nicht gelernt hätten, Täuschung zu erkennen, weil es Zeitverschwendung wäre, jede Aussage und Handlung der Menschen eingehend zu überprüfen.

Die Illusion der Durchschaubarkeit

Wir leben also im „Wahrheitsmodus“. Unvorsichtigerweise sitzen wir zugleich, so Gladwell, einer rundheraus falschen Vorstellung auf. Wir glauben nämlich, in Gesicht und Verhalten eines anderen seine wirklichen Gefühle lesen zu können. Die „Durchschaubarkeit“ des Fremden – für Gladwell reine Illusion.

Was uns davon abhält, den anderen als den zu erkennen, der er ist? Die vielfach unterschätzte „Verknüpfung“. Jene situative Kraft, die menschliches Verhalten mit beeinflusst. Besonders beschäftigt Gladwell in diesem Zusammenhang der Suizid der Afroamerikanerin Sandra Bland im Jahr 2015 nach einer Verkehrskontrolle, die aus dem Ruder geraten war. Warum die Situation eskalierte?

Nicht allein, weil Bland schwarz, der Polizist weiß war. Sondern vor allem als Folge eines „kollektiven Versagens“, das mit einer Neuausrichtung der texanischen Polizei zu tun hatte. Die nämlich hatte begonnen, auf ihren vergleichsweise friedlichen Highways aggressive Verkehrskontrollen à la Kansas City durchzuführen, und so ohne Not ein Klima der Angst geschaffen.

Gladwells hochaktuelles Buch dagegen setzt auf gesunde Skepsis – und Vertrauen. Er plädiert dafür, gnädig zu sein mit denen, die sich in anderen täuschen. Und zu versuchen, einander „mit Vorsicht und Bescheidenheit“ zu begegnen.

Malcolm Gladwell: Die Kunst, nicht aneinander vorbeizureden. Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer. Rowohlt, Hamburg 2019, 384 S., € 22,–

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 2/2020: Wer bin ich noch?
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