Verstand schlägt Magen

Studienplatz: Der Kopf entscheidet, ob wir uns satt fühlen. Nicht der Magen!

©

Es hat einen grasgrünen Rand und prangt heute auf fast 80 000 Lebensmitteln: das deutsche Biosiegel, ins Leben gerufen kurz nach der Jahrtausendwende von der damaligen Landwirtschaftsministerin Renate Künast. Doch das sechseckige Logo könnte eine unerwünschte Nebenwirkung entfalten: Möglicherweise lässt es uns langsamer satt werden – so dass wir mehr essen. Diesen Schluss legen zumindest die Befunde nahe, die der kanadische Marketingexperte Yann Cornil in einer aktuellen Publikation zusammengetragen hat. Er zeigt darin, dass das Sättigungsgefühl zum großen Teil Kopfsache ist und welche kognitiven Prozesse dabei eine Rolle spielen. Diese tragen maßgeblich dazu bei, dass wir oft mehr Energie aufnehmen, als wir benötigen.

Doch was hat das mit dem Biosiegel zu tun? Ökologisch angebaute Produkte haben ein gesundes Image. Gleichzeitig tendieren Menschen dazu, gesunde Nahrungsmittel für weniger füllend zu halten – oft ohne, dass es ihnen bewusst wird. Das konnten unlängst etwa Forscher der Universität Texas zeigen. Yann Cornil zufolge spielen derartige Erwartungen eine wichtige Rolle für die Frage, wie viel wir essen. „Wenn wir glauben, dass ein Gericht nicht sättigend ist, macht es uns möglicherweise wirklich weniger satt“, sagt er. Die Wissenschaftler aus Texas konnten diesen „Placeboeffekt“ tatsächlich nachweisen: Ihre Probanden fühlten sich nach Einnahme einer Mahlzeit hungriger, wenn diese zuvor als „gesund“ deklariert worden war.

Wenn Produkte als „low fat“ oder „kalorienarm“ ausgezeichnet werden, empfinden wir ihren Genuss als weniger füllend – was sich die Lebensmittelhersteller zunutze machen. Denn bei solchen Produkten genehmigen wir uns bereitwilliger einen Nachschlag. Dass Lebensmittelkonzerne ihre Schokoriegel gerne als „kleinen Snack“ bewerben, dürfte ebenfalls kein Zufall sein. Marketingforscher aus der Türkei und den USA konnten vor einiger Zeit zeigen, dass derartige Angaben einen signifikanten Einfluss darauf haben, wie viel wir essen. Sie drückten jedem ihrer Probanden eine Nusspackung in die Hand. Bei einer Teilgruppe trug die Packung das Label „klein“. Die Versuchspersonen verzehrten daraufhin deutlich mehr Nüsse.

Mit jedem Bissen schmeckt die Torte schlechter

Dass wir von einer kleinen Portion eher erwarten, dass sie uns nicht sättigen wird, ist plausibel. Doch warum gilt dasselbe für gesunde Lebensmittel oder für zucker- und fettarme Gerichte? „Es gibt bislang kaum Studien, die diese Frage beantworten, sondern nur Hypothesen“, sagt Cornil. Eine mögliche Erklärung: Fette und süße Nahrungsmittel schmecken so gut, dass wir häufig zu viel davon konsumieren. So setzt sich mit der Zeit der Eindruck in uns fest, sie seien besonders sättigend – eine Annahme, die ernährungsphysiologisch übrigens widerlegt ist.

Vom Kopf gesteuert ist auch die sogenannte wahrnehmungsspezifische Sättigung. Sie tritt ein, wenn unsere Geruchs- und Geschmacksrezeptoren wiederholt mit ähnlichen Reizen konfrontiert werden. Sprich: Die Schokoladentorte schmeckt mit jedem Bissen etwas schlechter. Auch diese Erfahrungen sorgen für einen messbaren Erwartungseffekt: Wenn wir eine Mahlzeit für abwechslungsreicher halten, dann essen wir mehr davon – auch wenn sie es in Wirklichkeit gar nicht ist. In einem Experiment nahmen Versuchspersonen zum Beispiel größere Mengen Pasta zu sich, wenn die Nudeln eine unterschiedliche Form hatten.

Das Gefühl, genug gegessen zu haben, entsteht jedoch nicht ausschließlich im Kopf: Unser Magen meldet durchaus, wenn er voll wird; das Hormon Leptin dämpft den Hunger. Doch dieses Signal ignorieren wir oft. Das hängt auch damit zusammen, wie wir essen: vor dem Fernseher, am Computer, beim Musikhören, beim Zeitungslesen. Dadurch verlieren wir bisweilen den Überblick darüber, wann wir das letzte Mal wie viel gegessen haben. Wer beim Fernsehen isst, nimmt nämlich nicht nur währenddessen mehr Kalorien zu sich (weil er nicht auf die Sättigungssignale des Körpers achtet), sondern auch bei der nächsten regulären Mahlzeit. Eine Reihe von Studien zeigt inzwischen, wie wichtig dieses „Essensgedächtnis“ für eine ausgewogene Energieaufnahme ist.

Den Genüssen Aufmerksamkeit schenken

Ein besonders skurriles Beispiel: Zwei US-Wissenschaftler baten Versuchsteilnehmer, ihr Lieblingsgericht zu nennen und sich daran zu erinnern, wann sie es das letzte Mal gegessen hatten. Einige der Probanden sollten dabei ihre Augenbrauen zusammenziehen. Daraufhin verspürten sie größeren Appetit auf ihre Leibspeise als eine Kontrollgruppe. Die Denkerpose suggerierte ihnen, dass die letzte Mahlzeit schon sehr lange her sein musste – so lange, dass sie sich nur bei voller Konzentration daran erinnern konnten. Daher das gesteigerte Verlangen, sie wieder zu essen.

Der Schluss, den Yann Cornil aus derartigen Befunden zieht, ist einfach: „Wir sollten lernen, den Genüssen des Essens wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken“, sagt er. „Das ist eine Fähigkeit, die bereits in den Grundschulen vermittelt werden sollte!“ Es ist wichtig, bei jedem Bissen unsere Aufmerksamkeit darauf zu richten, was wir dabei empfinden. Wir achten so automatisch stärker auf Sättigungssignale und prägen uns zudem deutlicher ein, wann und was wir beim letzten Mal gegessen haben.

Yann Cornil: Mind over stomach: A review of the cognitive drivers of food satiation. Journal of the Association for Consumer Research, 10/2017. DOI: 10.1086/693111

Artikel zum Thema
Leben
Essen, das bei anderen zu Freude führt, löst bei uns Ekel aus. Diese Faktoren beeinflussen unsere Psyche bei der Entstehung unserer Nahrungsvorlieben.
Gesundheit
​Was wir essen und trinken und wie viel wir uns bewegen unterliegt zunehmend einer öffentlichen Zensur. Genuss: Nur nach Gebrauchsanleitung!
Manchmal ist es gesund, etwas Ungesundes zu tun weiß unsere Kolumnistin Tabea Farnbacher durch einen Lehrtherapeuten mit einem unkonventionellen Ansatz
Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 6/2018: Diese Wohnung tut mir gut!
Anzeige
Psychologie Heute Compact 78: Was gegen Angst hilft