Sie stammen aus Kolumbien, einem Land, das über Jahrzehnte von blutigen internen Konflikten gezeichnet war. Sie haben vorwiegend dort geforscht. Was lehrt die Geschichte ihres Landes über die seelischen Ursachen von Gewalt?
Ich habe mehrere Jahre lang gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen Täter und Opfer von Gewalt in Kolumbien interviewt und dazu geforscht, wie man ihnen Therapieangebote machen kann, um die psychischen Folgen wie Depressionen, posttraumatische Belastungsstörungen und Funktionsbeeinträchtigungen zu behandeln. Meine erste Erkenntnis war, dass man sich mit den Tätern beschäftigen muss. Denn dort, wo Täter sind, sind auch Opfer. Opfer und Täter lassen sich meiner Forschung zufolge schwer unterscheiden.
Wie meinen Sie das? Hat jeder, der Gewalt ausübt, selbst Gewalt erlitten?
Ja, im Prinzip wurden viele zunächst selbst Opfer, ehe sie Täter wurden. Sie haben ganz unterschiedliche Formen von Gewalt erlebt, etwa einer Todesgefahr ausgesetzt zu sein, wenn eine bewaffnete Gruppe sie bedrohte. Es kann auch familiäre oder sexuelle Gewalt gewesen sein oder auch häufig die Bedrohung durch eine gefährliche Krankheit wie HIV oder Krebs. In meinen Studien zeigte sich, dass Täterinnen und Opfer ein ähnliches Ausmaß an Gewalt erlebt hatten. Und beide konnten unter den psychischen Folgen von Traumatisierung leiden. Wir haben es mit einer Spirale der Gewalt zu tun, die nicht leicht zu unterbrechen ist.
Was sind die Gründe, warum Menschen, die Opfer von Gewalt geworden sind, zu Tätern werden?
Wir haben die Täter nach ihren Motiven gefragt, Gewalt auszuüben. Etwa sieben Prozent gaben Rache als Motiv an. Einige Menschen wurden in Kolumbien auch schlicht zwangsrekrutiert. Aber bei Gewalt ist der soziale Einfluss nicht zu unterschätzen. Wenn das Umfeld gewalttätig ist, ist es für den einzelnen schwerer, selbst friedlich zu bleiben. Es gibt ein Phänomen der sozialen Ansteckung. Einige haben beispielsweise auch gesagt, dass sie sich gewalttätigen Gruppe anschlossen, weil dies Familientradition sei oder weil ihr Bruder schon bei einer paramilitärischen Gruppe war. Andere nannten Arbeitsmöglichkeiten als Motiv, denn einige Gruppen haben einen Lohn gezahlt, um Kämpfer zu rekrutieren – in Analogie zu Söldnern. Es gab auch 13 Prozent, die ihren Schritt zur Militarisierung mit der Faszination für Uniformen begründeten.
Lassen sich Ihre Forschungen auf den Krieg in der Ukraine übertragen? Welche Motive, Gewalt auszuüben, würden sie dort sehen?
Ich glaube schon, dass es psychologische Analogien gibt, wenn auch die politische Situation eine ganz andere ist und der Ausbruch des Krieges völlig anders verlief. In Kolumbien ging der Konflikt um Macht und Territorium sowie um das Geschäft des Drogenhandels. In der Ukraine geht es auch um Land und um Macht. Wie bei uns sind beide Bevölkerungen wie Brüder. Einige werden sagen, dass sie keine andere Möglichkeit haben, als in den Krieg zu ziehen, weil es ein Befehl ist. Anderen ermöglicht der Militärdienst, Macht auszuüben und eine bedeutsamere Rolle in der Gesellschaft einzunehmen, als sie sie in der Zivilgesellschaft innehatten. Für einige wird das Argument, das eigene Land verteidigen oder stärken zu wollen, eine Rolle spielen. Und dabei zu sein, bei einem entscheidenden Moment in der Geschichte des Landes, wird auch ein Grund sein.
Die Motive für Gewalt sind damit sehr vielfältig. Wie steht es mit dem Erleben von Gewalt?
Wir haben 252 Personen in anderthalbstündigen Interviews befragt, und ich habe herausgefunden, dass es Menschen gibt, die beim Ausüben von Gewalt mehr Faszination und Belohnung empfinden als andere. Diese Täter finden wir eher in Führungspositionen, etwa Kommandanten. Ich spreche von einer appetitiven Aggression, bei der die Betroffenen Spaß haben, anderen Leid zuzufügen. Im Gegensatz dazu fühlten sich einfache Soldaten oft dazu gezwungen, Gewalt auszuüben, und neigten eher zu einer reaktiven Aggression. Sie litten auch häufiger unter traumatischen Belastungen.
Entwickeln Menschen, die Gewalt ausüben, im Laufe der Zeit eine solche Faszination für Gewalt?
Dahinter können biologische Mechanismen stehen. Die Gewaltausübung geht im Gehirn mit der Ausschüttung von Testosteron einher, mit Aufregung und Erregung. Je mehr Taten jemand begeht, desto größer wird die Bereitschaft, neue Gewalt auszuüben, wenn diese Lust bereitet. Aber jemand der Gewalt ablehnt und auf Aggression mit Verteidigung reagiert, wird diese appetitive Aggression auch in einem gewalttätigen Umfeld nicht entwickeln.
Stehen hinter der Lust auf Gewalt sadistische Züge, die bei Führungspersonen jener paramilitärischen Gruppen häufiger waren?
Nein, es handelt sich nicht um ein psychopathologisches Phänomen. Unserer Forschung nach ist das eher phylogenetisch bedingt. Unser Organismus ist so verankert, dass wir uns schützen und auch dominieren wollen. Letzteres ist bei verschiedenen Menschen verschieden stark ausgeprägt. Die appetitive Aggression ist folglich eine normale Reaktion von einigen Menschen, um im Überlebenskampf zu bestehen. Bei Frauen haben wir diese Form des Gewalterlebens allerdings selten gefunden. Wenn sie Täterinnen waren, waren sie eher traumatisiert. Normalerweise tragen überdies die gesellschaftlichen Werte und die Erziehung dazu bei, dass diese Aggression reguliert und kaum ausgelebt wird.
Aber in kriegerischen Auseinandersetzungen hat Gewalt auf einmal einen legitimen Stellenwert. Dann kann also diese Lust und Faszination an Gewalt bei einigen Menschen aufflammen?
Ja, normalerweise darf diese Aggression und Motivation zum Kampf in modernen friedlichen Gesellschaften nur eine wenigen Kontexten ausgelebt werden, etwa bei Fußballspielen oder anderen Wettkämpfen. Daran knüpfen wir übrigens in unserer Traumatherapie in den so genannten Reintegrationsprogrammen an. Es geht darum zu erkennen, dass man bei der Ausübung von Gewalt, Belohnung und Gratifikation empfunden hat und dass diese Aggression in Friedenszeiten moralisch inakzeptabel ist und nur in legalen Kontexten ausgelebt werden darf, ohne anderen körperlichen und seelischen Schaden zuzufügen. Wir versuchen, diesen Reiz zu bearbeiten, sodass man niemandem schadet.
Wie ist es Ihnen gelungen, mit den Tätern über deren Gewalttaten zu sprechen?
Ich habe Täter und Opfer anderthalb Stunden interviewt. Ich habe nach traumatischen Ereignissen gefragt, Erlebnisse, die stressreich waren oder wo sie befürchteten zu sterben. Bei Tätern fragte ich auch nach ihren eigenen Delikten, etwa ob sie jemanden umgebracht haben. Sie redeten nicht gern darüber, weil sie sich schämten und weil sie befürchteten, dafür von der Justiz belangt zu werden. Sie haben mir aber im Großen und Ganzen von ihren Taten erzählt, etwa von Entführungen und der Verstümmelung und dem Begraben von Leichen, was bei uns sehr üblich war. Aber ich vermute hier eine hohe Dunkelziffer. Wir haben keine Amnestie in Kolumbien und für Menschenrechtsverletzungen drohen acht Jahre Gefängnis. Viele sagten deshalb, sie wüssten nicht mehr, ob sie jemanden umgebracht hätten.
Wie kann Traumatherapie gelingen, wenn so viel verschwiegen wird?
Es ist ein langer Weg. Am Anfang des Friedensprozesses waren die Täter extrem stigmatisiert. Unsere Büros mussten sogar geheim gehalten werden. Mittlerweile hat man mehr Verständnis, und wir zeigen mehr Präsenz in der Gesellschaft. Die Stigmatisierung und Verheimlichung behindern die Aufarbeitung. Schuld und Scham kommen als psychologisch begleitende Folgen der Traumatisierung noch dazu. Manche fragen, warum sie das überlebt haben, andere, warum sie das gemacht haben. Die Schuld steht eher mit der Tat und den gesellschaftlichen Werten in Verbindung. Die Scham rührt dagegen von dem Gefühl, dass die Gesellschaft von meiner Tat weiß und mich dafür verurteilt.
Wie erfolgreich war die Wiedereingliederung von Tätern mithilfe der Traumatherapie?
Ich arbeite mit der Narrativen Expositionstherapie NET. Wir versuchen, die negativen Emotionen, die den Menschen noch belasten, einzuordnen, und spielen dafür die Gewalterfahrung, also das zugrundeliegende Ereignis, wieder durch und rufen die Gefühle und Wahrnehmungen intensiv auf. Es geht darum, den damit verknüpften Emotionen einen Platz zu geben und sie einzuordnen und zu begreifen, dass das Ereignis vergangen und die Situation heute eine andere ist.
Diese Therapie wirkt sehr individuell. Im besten Fall geht das Ausmaß an appetitiver Aggression im Verlauf zurück. Die moralischen Werte und Normen friedlicher Zivilgesellschaften werden gestärkt und die Menschen finden andere Wege, Gratifikation und Belohnung zu erhalten. Einige Personen sind aber auch wieder in die Kriminalität zurückgekehrt. Meine These ist, dass es jene sind, die eher eine appetitive Aggression erleben - aber dazu haben wir noch keine Studie. Diese wäre auch schwer zu realisieren, weil jene Täter in der Illegalität leben und häufig ihren Lebensmittelpunkt wechseln.
Wie kann aus Ihrer Perspektive nach massiven Gewalterfahrungen in einer Gesellschaft wieder Frieden entstehen?
Um eine friedliche Gesellschaft zu schaffen, müssen wir die Wahrheit erfahren, sonst bleibt alles tabuisiert und verborgen. Das kann sich auch auf die nächsten Generationen übertragen. Auf einer gesellschaftlichen Ebene braucht es eine Wiedergutmachung für die Opfer und eine Garantie des Staates, dass sich das nicht wiederholen darf. Denn davor haben die Opfer Angst. Die Täter müssen die Opfer um Verzeihung bitten. Vor kurzem hat eine Wahrheitskommission in Kolumbien ihren ersten Bericht veröffentlicht. Es ist ein sehr langer und schwerer Weg von der Gewalt zum Frieden. Aber der kolumbianische Weg kann auch als Modell für andere Teile der Welt gesehen werden.
Claudia Bueno ist promovierte Psychologin. Sie arbeitet an der Universität Rostock zu den psychischen Ursachen von Gewalt und ihren Folgen.