Wir reden nur von Filterblasen. Das stört Bernhard Pörksen

Im Netz prallen permanent Parallelöffentlichkeiten aufeinander, was zu ständiger Gereiztheit führt.

Die Theorie der Filterblase ist ­eine der mächtigsten Kommunika­tionsmythen der Gegenwart. Sie suggeriert: die Polarisierung und Fragmentierung der Gesellschaft sei technisch bedingt. Und ließe sich auch technisch lösen. Das ist gefährlich.

Woran liegt es, dass sich Attila Hildmann radikalisiert und Xavier Naidoo unter Tränen in selbstfabrizierten Videos die Wahnideen der QAnon-Anhängerinnen und -Anhänger referiert? Und warum verrammeln sich Impfgegnerinnen und Impfgegner in Zeiten der Pandemie in der Wagenburg ihrer Meinungen, die sie mit Wissen verwechseln? Die Antwort liefert – vermeintlich – die seit 2011 von dem Netzaktivisten Eli Pariser propagierte Filterblasentheorie, eine Modethese mit Weltwirkung, optimal für den düster schillernden Smalltalk.

Die zentrale Annahme lautet: Personalisierte Algorithmen locken uns in einen Tunnel der Selbstbestätigung hinein. Sie zwingen uns in strikt voneinander getrennte Wahrnehmungswelten, in denen uns dann die Mono-Diät einseitiger Information serviert wird. Und weil das so ist und wir die unheimliche Hintergrundmacht der Algorithmen leider nicht begreifen, entsteht allmählich eine lernunfähige Filterblasen-Gesellschaft, die sich aus isolierten Realitätsparzellen zusammensetzt.

Digitale Informationswelt bleibt divers

Kleines Problem der seit einem Jahrzehnt donnernd vorgetragenen Pauschalthese: Sie verwandelt das sehr ernste Problem sozialer Spaltung in eine technische Manipulationsfantasie. Und sie ist falsch, dies gleich aus mehreren Gründen. Zum einen widerspricht sie der alltäglichen Erfahrung. Denn das Grundprinzip der Vernetzung ist die Verlinkung. Aber was ist ein Link? Die Antwort: ein Ticket in ein potenziell immer neues Wirklichkeitsuniversum.

Ein paar Klicks… und schon gelangt man von dem Twitter-Account von Greta Thunberg zu den Seiten der Klimawandelleugner und zurück zu dem Netzauftritt einer seriösen Wissenschaftlerin. Zum anderen steht Eli Parisers Dystopie im Gegensatz zu einer Fülle veröffentlichter Studien, die zweierlei deutlich machen: Erstens ist die digitale Informationswelt außerordentlich divers – trotz lernender, die Datenflut sortierender Algorithmen.

Menschliche Bestätigungssehnsucht

Zweitens ist die sogenannte Filterblase primär ein Symptom unseres Informationsverhaltens, Ausdruck und Folge der allgemein menschlichen Bestätigungssehnsucht, des confirmation bias. Und noch etwas: Wir können uns zwar in unser Selbstbestätigungsmilieu hineingoogeln, aber der Weltsicht anderer unter vernetzten Bedingungen nicht ausweichen.

Das heißt: Es herrscht permanente „Feindberührung“, eine Tiefenursache der großen Gereiztheit im digitalen Zeitalter. Im Netz, diesem so ungeheuer plastischen Nähe-Medium, regiert etwas, was ich den Filterclash nenne, das permanente Aufeinanderprallen von Parallelöffentlichkeiten.

Auf dem Weg zu mehr Empathie und gelingender Verständigung bräuchte es also nicht einfach nur eine raffiniertere Software und algorithmisch-technische Irritationsprogramme, die den Dissonanzstress im Zweifel einfach nur steigern. Vielmehr bräuchte es viel Zeit, Sensibilität und Behutsamkeit, geklärte Kontexte und analoge Lern- und Kooperationserfahrungen, um den Disput und den Dialog zu verbessern. Man müsste vom Menschen sprechen, nicht von Maschinen.

Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Er erforscht die Macht der öffentlichen Empörung und die Zukunft der Reputation.

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2022: Burn on
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