Auf dem Basar der Seminar- und Trainingsangebote gibt es nur wenige noch heißer gehandelte Waren als Empathie. Auch auf dem populärwissenschaftlichen Buchmarkt wird Empathie als Schlüssel zu einer besseren Welt angepriesen, von Frans de Waals The Age of Empathy bis zu Titeln wie Empathie. Weshalb einfühlsame Menschen gesund und glücklich sind.
Dieser Diskurs beruht auf einem begrifflichen Taschenspielertrick. Das Lob der Empathie wirkt allein deshalb so plausibel, weil es eine alte Vorstellung aufruft, nämlich die der Einfühlsamkeit als sozialer Tugend. Einfühlsamkeit – die im 18. Jahrhundert bei Shaftesbury und Adam Smith unter dem Namen Zartgefühl behandelt wird – meint eine Lebenseinstellung, die von Sensibilität, wohlwollender Aufmerksamkeit und liebevoller Anteilnahme geprägt ist. Und wer wollte bestreiten, dass die Welt ein besserer Ort wäre, wenn wir mehr davon hätten?
Wir müssen jedoch diesen alten, um nicht zu sagen: altmodischen Begriff der Einfühlsamkeit von „Einfühlung“ im modernen Sinne unterscheiden.
Dieses Kunstwort, von dem Psychologen Theodor Lipps erfunden und später als empathy ins Englische übersetzt, machte Karriere im Kontext des erkenntnistheoretischen Problems, ob und wie die mentalen Zustände anderer Menschen für uns erkennbar seien. Einfühlung bezeichnet in diesem Kontext schlicht die Fertigkeit, sich in jemanden hineinzuversetzen, um Aufschluss über seine Gedanken und Motive zu erlangen.
Moderne Empathie kann parteiisch und gefühlsbesoffen machen
Der Unterschied zwischen diesen beiden Begriffen könnte größer nicht sein. Die alte Einfühlsamkeit ist eine Tugend, also eine an einer bestimmten Vorstellung des Guten orientierte Haltung. Sie hat ihren Sitz in einem ganzheitlichen Lebensentwurf, der unauflöslich an bestimmte normative Ideale und Werte gebunden ist. Nur im Gesamtzusammenhang dieses Entwurfs besitzt die Einfühlsamkeit ihren Wert und ihr Maß.
Im Kontrast dazu handelt es sich bei der modernen Empathie um eine bloße Fertigkeit, einen trainierbaren skill. Als solche ist sie aber gerade noch keine Tugend. Sie führt keineswegs von allein zu sozial positiven Resultaten. Weil sie nicht durch andere Tugenden ausbalanciert wird, kann sie parteiisch und gefühlsbesoffen machen. Und weil sie ethisch neutral ist, kann sie als bloßes Mittel zu allen möglichen Zwecken eingesetzt werden.
Das ist es also, was stört: Die Marktschreier der Empathie parfümieren ihre Versprechungen mit dem lieblichen Duft der alten Tugend, während alles, was sie anzubieten haben, die zur manipulativen Verkaufsmethode verkommene Sozialtechnik ist. Durchschaut man den Trick, verlieren ihre Versprechen jede Plausibilität. Tugend beruht auf lebenslanger Charakterbildung. Sie wird gelebt, nicht strategisch eingesetzt. Sie ist kein life hack. Man erwirbt sie nicht aus Büchern und auch nicht bei Wochenendseminaren. Diese mögen in allen möglichen Hinsichten nützlich sein. Ein Beitrag zu einer besseren Welt sind sie deswegen noch nicht.
David Lauer studierte Philosophie. Er ist Privatdozent an der Universität Kiel und der Freien Universität Berlin.