Ich werde gesehen, also bin ich lautet der Titel Ihres Buches. Was meinen Sie mit dieser Formel?
Einerseits handelt es sich um eine Identitätsformel unserer panoptischen Mediengesellschaft: Wer nicht gesehen wird, existiert buchstäblich nicht! Andererseits um eine entwicklungspsychologische Identitätsformel, prägnant formuliert von Donald Winnicott, dem psychoanalytischen Entdecker eines Übergangsraums zwischen werdendem Selbst und resonanter Umwelt: „In der Entwicklung des Kindes ist das Gesicht der Mutter der Vorläufer des Spiegels. Wenn ich gesehen werde, so bin ich.“ An diese frühkindliche Spiegelerfahrung, die im impliziten Gedächtnis gespeichert und im Unbewussten lebenslang virulent bleibt, können Facebook, Instagram und Co andocken. Big Brother ist eigentlich Big Mother.
Der psychoanalytische Mainstream pflegt einen Digitalpessimismus, der die digitalen Medien und ihre Auswirkungen dämonisiert. Woher nehmen Sie Ihren Optimismus?
Medien sind an sich weder gut noch böse, es kommt auf die Absichten ihrer Nutzer, auf die Art ihrer Verwendung an. Statt die digitale Kommunikationstechnologie zu verteufeln, sollte die Psychoanalyse das Neue daran verstehen, etwa am Mitmachfernsehen mit seinen florierenden Casting-, Reality-, Game-, Quiz- oder Kochshows.
Hier demokratisiert sich der mediale Narzissmus, in vordigitalen Zeiten den Schönen, Reichen und Berühmten vorbehalten. Die Internetplattformen, Websites, Chatrooms, sozialen Netzwerke – sie sorgen dafür, dass jeder und jede sich zeigen, mit dem eigenen Werk in Szene setzen und identitätsstiftende Umweltresonanz erhoffen darf. Mit allen Folgen und Nebenwirkungen, zu denen auch das demonstrative „Morden im Rampenlicht“ des Amokläufers oder Terroristen gehört.
Insofern ist mein Optimismus kein Digital-, sondern ein Geschichtsoptimismus. Er verdankt sich der historischen Erfahrung, dass moderne Medien – in der Frühmoderne schon der Buchdruck, im 20. Jahrhundert dann Radio und Fernsehen – stets einen nostalgieschwangeren Kulturpessimismus auf den Plan riefen, während sie gleichzeitig zur Verwandlung von Lebenswelt und Seelenleben beitrugen.
Wieso vertrauen Sie darauf, dass „die Internetgeneration sich die Lebenswelt der reflexiven Moderne auf ihre besondere Weise aneignet“?
In der bisherigen Menschheitsgeschichte hat es noch jede nachwachsende Generation geschafft, die Welt, die sie vorfindet, zu ihrer eigenen zu machen. Warum sollte das ausgerechnet den Digital Natives nicht gelingen – durch all ihre Exzesse, Irrtümer und Abwege hindurch. Noch jedenfalls haben sie mehr Angst davor, übersehen als überwacht zu werden.
Viele Menschen haben ihr Smartphone ständig bei sich und werden geradezu panisch, wenn sie es vergessen, verlegt oder gar verloren haben. Wie deuten Sie diese quasi nabelschnurartige Verbindung?
Psychoanalytische Zeitkritiker pflegen ihren Pathologieverdacht: das Handy als Fetisch oder Surrogatobjekt, als autistisches Objekt, als narzisstische Selbsterweiterung oder Prothese. Ich selbst halte das Smartphone für ein auf Dauer gestelltes „Übergangsobjekt“ sensu Winnicott: ein geniales Zwischending, das der Vermittlung von psychischer Innen- und sozialer Außenwelt dient.
Dr. Martin Altmeyer arbeitet als Paar- und Familientherapeut, Coach und Supervisor in Frankfurt am Main. Er ist klinischer Psychologe, promoviert in der Psychiatrie und habilitierter Privatdozent für psychoanalytische Psychologie
Altmeyers Buch Ich werde gesehen, also bin ich. Psychoanalyse und die neuen Medien (87 S., € 12,–) ist bei Vandenhoeck & Ruprecht erschienen